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  • Alfred Ellinger

Wieder Krieg

An die täglichen Schreckensmeldungen aus der Ukraine hat man sich beinahe gewöhnt. Raketen, Bomben, Drohnen, tote Zivilisten, tote Alte, tote Kinder, verschleppte Kinder, tote Soldaten, gefolterte Menschen, Ruinen, ein zerbombtes Land, die täglichen Forderungen nach mehr Waffen, Abwehrwaffen, Angriffswaffen, Munition und Hilfspakete, tägliche Lagebeurteilungen von Militärexperten, das verbissene, leidenschaftliche Gesicht von Selenskyj, das kalte, regungslose Pokergesicht von Putin und kein Ende dieses Albtraums!

All der Tragik nicht genug, hat der fünfte Krieg im Israel-Gaza-Konflikt begonnen – unendlich tragisch, unendlich grausam.



Es ist beinahe fünfzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch sehr genau an einen Flug von London nach Dublin. Neben mir saß ein für mich damals sehr alter Rabbiner, der mit mir ein interessantes und freundliches Gespräch begann. Im Zuge dieses Gesprächs fragte ich ihn, ob er an einen baldigen Frieden in Israel glaube? Er sah mich mit trüben Augen an und sagte: „Solange die Juden nicht fromm werden, wird es keinen Frieden in Israel geben!“ Und dann zitierte er aus Martin Buber – „Die Stunde der Erkenntnis“ Worte, die dieser am Vorabend tödlicher Ereignisse niederschrieb (ich habe es später nachgelesen): „…das uns widerfährt, ist, auch wenn es uns ans Mark greift, nicht das Entscheidende; das Entscheidende ist, wie wir uns dazu verhalten, was wir daraus machen, was es aus uns macht. Gerade weil es uns ans Mark greift, kommt es darauf an, was nun von diesem, von dem Innersten ausgeht. Es hat sich zu erweisen, wie wir zuinnerst beschaffen sind...“

Nimmt man die Worte Martin Bubers als Maßstab, erscheint auch der gnadenlose Krieg Israels gegen die Hamas in seiner Durchführung und mit seinen Folgen, mehr als fragwürdig.

Das stets angespannte Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern hat eine bedeutsame Vorgeschichte. Die jüdische Einwanderung nach Palästina zu Beginn des 19. Jahrhunderts war stark von der Kibbuzbewegung geprägt. Mit der Balfour-Deklaration von 1917 sicherte die britische Regierung ihre Unterstützung für die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina zu. 1922 übertrug der Völkerbund den Engländern das Mandat über Palästina. Die palästinensische arabische Bevölkerung fühlte sich zunehmend verdrängt und es kam zu blutigen Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung. 1937 wurde im Peel-Report erstmals die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorgeschlagen. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kündigte Großbritannien an, sich aus dem britischen Mandatsgebiet zurückzuziehen. Am 29 November 1947 beschloss die UN-Generalversammlung die Teilung Paläs­tinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat. Jerusalem sollte unter UN-Verwaltung gestellt werden. Schon dieser Beschluss wurde von den Arabern abgelehnt, von den Juden jedoch, wenn schon nicht begrüßt, aber akzeptiert.

 

Unabhängig. Am 14. Mai 1948 zogen sich die letzten britischen Streitkräfte aus Palästina zurück und David Ben-Gurion verkündete Israels Unabhängigkeit. Noch in der darauffolgenden Nacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neu gegründeten Staat den Krieg. Dieser Krieg dauerte 15 Monate und entwickelte sich für Israel positiv. Der erfolgreiche Krieg brachte eine Erweiterung des israelischen Staatsgebietes um 50 %. Während dieses Krieges begann die Vertreibung palästinensischer Araber. Viele dieser vertriebenen Araber und ihre Nachkommen, leben bis heute in Flüchtlingslagern. Die Entstehung des Staates Israel gilt für die Palästinenser bis heute als die große Katastrophe (Nakba). Im Jahre 1949 kam es auf Rhodos zu vier Waffenstillstandserklärungen, zwischen Israel auf der einen Seite und Ägypten, Jordanien, dem Libanon und Syrien auf der anderen Seite.  Friedensabkommen wurden bisher nur 1979 mit Ägypten und 1994 mit Jordanien geschlossen

Am 5. Juni 1967 begann der Krieg zwischen Israel und Ägypten mit einem Präventivschlag der israelischen Luftwaffe. Daraufhin trat auch Jordanien, das mit Ägypten einen Verteidigungsvertrag geschlossen hatte, in den Krieg ein. Am Ende des Krieges kontrollierte Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halb­insel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem.

Es folgten 1973 der Jom-Kippur-Krieg, 1982 der Libanonkrieg und von 1987 bis 1993 die erste Intifada, 2000 bis 2005 die zweite Intifada, 2006 wieder ein Krieg mit dem Libanon und 2008/2oo9 die Operation „Gegossenes Blei“. Im Mai 2021 kam es zu den schwersten Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern.

 

Terrororganisation Hamas. Am 7. Oktober 2023 begann der fünfte Krieg im Gaza-Israel-Konflikt. Bei dem, von der wohl als Terrororganisation zu bezeichnenden Hamas, vom palästinensischen Autonomiegebiet Gazastreifen aus geführten entsetzlich brutal geführten Angriff auf Israel wurden 1.139 Menschen – 695 Zivilisten, darunter 36 Minderjährige, 373 Angehörige der Sicherheitskräfte und 71 Ausländer – getötet. Etwa 250 Menschen, möglicherweise mehr, wurden als Geiseln genommen und in den Gazastreifen entführt. 4932 Menschen wurden verletzt.

Dieses Ereignis wurde als der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust bezeichnet. In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober 2023 begann die Bodenoffensive im Norden des dicht besiedelten Gazastreifens. nach heftigen Luftangriffen auf mehr als zehntausend Ziele. Diese Zahlen sind naturgemäß nicht objektiv überprüfbar und basieren auf Angaben des israelischen Militärs, der Gesundheitsbehörden in Gaza, dem roten Halbmond und der UNO. Nach einem Abkommen zwischen der Hamas und Israel kam es am 24.November 2023 zu einer Feuerpause. Diese endete am 1. Dezember, nachdem 105 Geiseln freigelassen wurden. Israel ließ im Gegenzug 240 Palästinenser aus Gefängnissen frei.

 

Im Gazastreifen wurden nach unüberprüfbaren Angaben  (Stand Jänner 2024) 24.448 Menschen getötet, darunter zumindest 6.000 Minderjährige und viele Neugeborene, weitere zumindest 6.000 Menschen liegen noch unter den Trümmern der zerbombten Gebäude begraben. 61.504 Menschen wurden verletzt. In Israel wurden 1.200 Menschen getötet und 5.431 verletzt. Im Westjor­danland starben 355 Menschen, 4.234 wurden verletzt. Angaben der UNO zufolge wurden allein bis zum 5. Dezember 2023. 131 UNO- Mitarbeiter und 280 im Gesundheitswesen Beschäftigte, sowie 81 Journalisten getötet.

Am 29. Dezember 2023 hat Südafrika beim Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel erhoben. Geltend gemacht wird, dass Israel  gegen die Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention 1948 verstoßen habe. Darüber hinaus wurden einstweilige Maßnahmen beantragt, die Israel anweisen sollen, die Militäraktionen im Gazastreifen einzustellen.

Israel wies alle Anschuldigungen zurück. Kriegsziel Israels sei die völlige Zerstörung der Terrororganisation Hamas und der Aufbau einer Sicherheitsverwaltung in Gaza. Der, vor allem von den USA, geforderten Zweistaatenlösung wurde von der israelischen Regierung eine klare Absage erteilt und damit die USA und Joe Biden vor den Kopf gestoßen. Mahmud Abbas hat die Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates als Voraussetzung für Frieden und Stabilität bezeichnet. Damit erscheint es bedauerlicher Weise auch klar, dass ein Frieden zwischen Israelis und Palästinensern in weite Ferne rückt.

Die Friedensbemühungen der USA, der EU, aber auch arabischer Staaten blieben bislang ohne Erfolg. Die Menschenrechte (beschlossen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.Dezember 1948) der Palästinenser scheinen weiterhin in höchster Gefahr und der Krieg geht mit unverminderter Härte weiter. Waffenstillstände und humanitäre Feuerpausen werden von Israel abgelehnt. Über Katar geführte Vermittlungsgespräche (haupt­sächlich zur Freilassung der noch immer in den Händen der Hamas befindlichen Geiseln) blieben zuletzt ohne Erfolg. Von Angehörigen der Geiseln wird vermutet, dass der Regierung die Erreichung ihrer militärischen Ziele wichtiger ist als die Befreiung der Geiseln. Die aus ihren, mittlerweile weitgehend zerstörten Häusern vertriebenen Palästinenser leben in improvisierten und kaum versorgten Flüchtlingslagern. Die medizinische Versorgung und die Versorgung mit  Wasser und Lebensmittel ist weitgehend zusammengebrochen.

 

Recht der Selbstverteidigung. Jedem Staat, so auch Israel, steht ohne Zweifel das Recht der Selbstverteidigung zu. Die Sicherheit vor Angreifern von außen  ist die Voraussetzung für die dem Staat obliegende Erfüllung seiner gesamten Gemeinwohlaufgaben. Mit der Frage des Selbstschutzes des Staates sind die Fragen der Ethik des Krieges gestellt. Der Krieg ist ein sittlich absolut verwerfliches Mittel der Politik. Allerdings ist der Krieg als Mittel der Verteidigung eines angegriffenen Staates gerechtfertigt und kann sogar zur Verteidigung der höchsten Güter des Menschen geboten sein. Die Verteidigung von Leben, Hab und Gut der Menschen ist einer der wesenhaften Zwecke der staatlichen Gemeinschaft.

Gerecht kann ein Krieg nur als Verteidigungskrieg unter folgenden Bedingungen sein:

1. wenn er durch einen Staat zur Verteidigung der wichtigsten Güter des Staatsvolkes geführt wird, die durch einen Angreiferstaat verletzt oder unmittelbar bedroht sind;

2. dass keine übergeordnete Instanz zum Schutze des verletzten oder bedrohten Rechtes angerufen werden kann;

3. dass durch den Krieg nicht höhere Güter gefährdet werden, als durch ihn geschützt werden sollen;

4. dass die Absichten und Handlungen des Verteidigers nicht über die Verteidigung und Wiederherstellung der Rechtsverletzungen hinausgehen;

5. dass die zur Verteidigung angewendeten Mittel an sich einwandfrei sind (hier, weil im gegenständlichen Bezug nicht vollständig von der Hand zu weisen, sind anzuführen: die Bombardierung offener Städte, die unterschiedslos ein ganzes Volk treffende Hungerblo­ckade);

6. dass die angewendeten Mittel dem Verteidigungszweck angemessen sind, nämlich nicht größere Übel zuzufügen, als durch den Verteidigungszweck erforderlich ist.

Daraus folgt aber auch:

1. Leben und Freiheit der nicht kämpfenden Bevölkerung ist rechtlich unverletzlich, vorsätzliche direkte oder indirekte Tötung der Zivilbevölkerung (Frauen und Kinder) ist auch im Krieg Mord;

2. Gefangene und Verwundete des Gegners müssen die gleiche Versorgung wie die eigenen Soldaten erhalten;

3. Auch Repressalien sind kein gerechtfertigtes Mittel der Verteidigung    (Verhinderung der Lieferung von notwendigen Versorgungsgütern – Medikamente, Lebensmittel, Wasser, Treibstoff  usw. – für die Zivilbevölkerung).

                       

Kommandozentralen und militärischen Einrichtungen  im Tunnelsystem. Zweifellos steht Israel nach dem menschenverachtenden Hamas-Angriff auf wehrlose Bürger ein Selbstverteidigungsrecht zu und zweifellos ist eine Kriegführung gegen die  Terrororganisation Hamas (bedeutet arabisch soviel wie „Kampfgeist“) ungeheuer schwierig. Die Hamas hat ihre Kommandozentralen und militärischen Einrichtungen   weitgehend in ein 720 km umfassendes Tunnelsystem bis zu 20 Meter unter die Erde verlegt. Zahlreiche derartige militärische Einrichtungen und Abschuss­rampen für Raketen um Israel zu beschießen, befinden sich im Bereich von Wohngebäuden, Spitälern, Schulen, Kindergärten, Moscheen, Kirchen und kultureller Einrichtungen, Auf diese Weise wird die Zivilbevölkerung gleichsam als Schutzschild verwendet.

 

Existenzrecht abgesprochen. Die Hamas ist eine 1987 als Arm der Muslimbruderschaft entstandene islamische Widerstandsbewegung und wird international weitgehend als Terrororganisation eingestuft. 2006 gewann sie die Wahlen in Gaza und regiert seither autoritär. Jede politische Opposition und Meinungsfreiheit wird von ihr, ebenso wie ein Friede mit Israel, abgelehnt. Ein eigenständiger Staat Palästina soll, ihrer Zielsetzung folgend, den Gazastreifen, das Westjordanland und ganz Israel umfassen. Israel wird ein Existenzrecht zur Gänze abgesprochen.

Auch wenn ein (notwendiger und gerechter) Kampf gegen die Hamas ungeheuer schwierig ist, so gelten doch auch die Regeln des humanitären Völkerrechts über den Krieg. Der Internationale Gerichtshof wird wohl erst in einigen Jahren hierzu ein Urteil sprechen, aber eines müsste schon jetzt unverbrüchlich gelten: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch im Krieg!

Das Vorgehen Israels mag vielleicht noch kein Völkermord sein, aber, ob in diesem Krieg die einzufordernde Verhältnismäßigkeit noch gewahrt ist, ob Menschenrechte und das Kriegsrecht nicht massiv verletzt wurden, erscheint zumindest in Anbetracht des Verhältnisses von getöteten Zivilisten (Alte, Neugeborene, Kinder und Frauen), zerstörten zivilen Einrichtungen (Spitäler, Schulen, Kindergärten, Kirchen, Moscheen) und ganzen Wohnbezirken, Vertreibung der Zivilbevölkerung, unkorrekte Behandlung von Gefangenen zu den legitimen militärischen Zielsetzungen Israels fragwürdig und keinesfalls unumstritten.

Der Krieg in Gaza und Israel wird noch viele Menschenleben, vor allem unter der Zivilbevölkerung, fordern und  Israel wird damit wohl viele Sympathien in der Welt verlieren. Die Feindschaft der Araber bleibt Israel damit ganz sicher erhalten. Einen Frieden wird es in Israel sobald nicht geben. Eine Ausweitung des Krieges etwa auf den Libanon, ja, ein Flächenbrand im Nahen Osten kann nicht ausgeschlossen werden.

Und mir kommen die Worte des alten Rabbiners im Flug von London nach Dublin und das Zitat aus Martin Bubers „Die Stunde der Erkenntnis“ wieder in den Sinn: „...es hat sich zu erweisen, wie wir im Innersten beschaffen sind“!









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