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  • Alfred Ellinger

Korioses und Heiteres

Unser Leben ist dank Klimakrise, Pandemie, Krieg in der Ukraine, Inflation, den damit im Zusammenhang stehenden stetig steigenden Lebenshaltungskosten und einer gutwilligen, aber wenig glücklich agierenden EU und weiter einer ebensolchen Regierung, derzeit nicht gerade lustig.


Das Gerichtsgebäude in Eisenstadt, wo Alfred Ellinger – zuletzt als Vizepräsident – urteilte.

Aus diesem Grund nehme ich davon Abstand, irgendeine tiefsinnige Abhandlung zu verfassen und rufe mir einige teils heitere, teils kuriose Episoden, die sich trotz ernstem, manchmal dramatischem Hintergrund ergeben haben, in Erinnerung.


Ferenc B. Es war ein heiterer, sonniger Tag, als ich mein Büro morgens betrat. Sofort nahm ich ein amtliches Schriftstück auf meinem Schreibtisch wahr. Es war ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Justiz, in dem „angeordnet“ wurde, wie die verschiedenen Ethnien in unserem Land korrekt zu bezeichnen sind. Unter anderem war vermerkt, dass die Bezeichnung „Zigeuner“ völlig unangebracht ist und Angehörige dieser Volksstämme künftig als Rom oder Sinto (jeweils die männliche Form) zu bezeichnen sind. Dieser minis­terielle Erlass wurde über Anordnung unseres seinerzeitigen, von mir sehr geschätzten Präsidenten unverzüglich allen Richtern zur Kenntnis gebracht.

Unser Präsident erinnerte mich gelegentlich sehr an den „Vice Questore Patta“, der in Donna Leons Kriminalromanen häufig mit seinem bes­ten Mitarbeiter Commissario Guido Brunetti aneinander prallte. Dieses ministerielle Schreiben war für mich unmittelbar von Bedeutung, da ich am selben Tag eine Strafverhandlung gegen Ferenc B. hatte. Die Strafregisterauskunft von Ferenc B. wies 24 Vorstrafen wegen eher unbedeutender Eigentumsdelikte auf, die meisten davon habe ich verhängt.

Ferenc B. wohnte in einer Roma-Siedlung im südlichen Burgenland und gehörte auch dieser Volksgruppe an. Er war ein angenehmer Beschuldigter, weil er stets voll geständig war und nach der Verhängung meist ohnehin moderater Strafen auf Rechtsmittel verzichtete. Bei jeder Verhandlung gegen Bewohner der erwähnten Roma-Siedlung war auch der „Sippen-Älteste“ als Zuhörer im Verhandlungssaal. Er war eine Respekt gebietende Persönlichkeit, stets mit Gehstock und Hut, den er auch im Gerichtssaal nicht abnahm. Er kommentierte nach der Urteilsverkündung jeweils sehr objektiv das gesprochene Urteil: „Herr Rat, heute waren Sie viel zu milde, der hätte viel mehr verdient!“ oder „Herr Rat, heute haben Sie aber tief in den Schmalztopf gegriffen!“

Nun, Ferenc B. war, wie immer, pünktlich zu seinem Prozess erschienen. In der Anzeige der Gendarmerie stand: „Ferenc B. schlug zuerst die Scheibe des Elektrogeschäftes S. und dann den Weg nach Stegersbach ein“. Ich überprüfte wie üblich seine Generalien und stellte in Befolgung des ministeriellen Erlasses fragend fest: „Sie sind also ein Rom“. Das Gesicht von Ferenc B. bekam einen unendlich traurigen Ausdruck und mit gedämpfter Stimme sagte er: „Herr Rat, wollen Sie mich beleidigen? Sie wissen ganz genau, dass ich ein Zigeuner bin und ich bin stolz darauf!“ Ich habe Ferenc B. bis zu meiner Pensionierung noch einige Male verurteilt und bei der Feststellung seiner Generalien – jeweils mit seiner wohlwollenden Zustimmung – vermerkt, dass er Zigeuner ist.

Nach meiner Pensionierung habe ich Ferenc B. in einem Einkaufszentrum im südlichen Burgenland getroffen. Er hat mich freudig begrüßt und erzählt, dass er nichts mehr mit dem Gericht zu tun habe. Er erhalte jetzt eine Pension und brauche daher nicht mehr zu stehlen. „Herr Präsident, vor Ihnen ziehe ich meinen Hut, Sie waren immer fair zu mir!“ Ein Kompliment aus berufenem Munde, das mir die Sicherheit gab, ihn gerecht behandelt zu haben.


Draßburg. Schöffenverfahren gegen einen Brandstifter wegen § 169 Abs. 1 und 2 StGB (Brandstiftung). Der Täter hatte das Haus seines Nachbarn angezündet. Die Familie konnte sich gerade noch leicht verletzt retten. Der entstandene Schaden war enorm. Aus mir unerfindlichen Gründen befand sich der Angeklagte noch immer auf freiem Fuße. Er leugnete die Tat, wurde aber durch Zeugen und dem Brandsachverständigen eindeutig der Tat überführt. Der Schöffensenat verurteilte den einschlägig vorbestraften Mann zu sieben Jahren Freiheitsstrafe.

Der Verurteilte erhob Rechtsmittel, baute sich vor mir auf und schrie mich an: „Für Sie wird das ein Nachspiel haben. Ich lasse mir diese Ungerechtigkeit nicht gefallen. Ich gehe bis nach „Draßburg“ (eine Ortschaft im Bezirk Mattersburg gelegen; gemeint hatte der Verurteilte natürlich Straßburg, den Sitz des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Ich konnte es mir nicht verkneifen ihm zu antworten: „Tun Sie das, dort können Sie sogar zu Fuß hingehen, es ist ja nicht sehr weit. Aber erst, wenn Sie ihre Haft verbüßt haben“.

Mittlerweile hatten Kriminalbeamte nämlich erhoben, dass sich der Verurteilte bei der Australischen Botschaft über Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen erkundigt und auch schon ein Flugticket gebucht hatte. Deshalb stellte der Staatsanwalt einen Haftantrag wegen Fluchtgefahr und ich verhängte noch im Gerichtssaal die Untersuchungshaft. Das verhängte Urteil wurde bestätigt. Ob der verurteilte Brandstifter später vielleicht doch noch tatsächlich nach Draßburg gegangen ist, weiß ich nicht.


Frieda S. Es war Anfang Juli 1988, während meines Journaldienstes erhielt ich vom Gendarmerieposten eines kleinen Ortes im mittleren Burgenland die Mitteilung, dass ein bedenklicher Todesfall gemeldet wurde. Ich fuhr daher mit meiner Schriftführerin zum Tatort. Dort fand ich die verstorbene Frieda S., 76 Jahre, im Bett liegend vor. Blutspuren auf der steil zu ihrem Schlafzimmer führenden Treppe, eine Kopfverletzung und der widersprüchliche Angaben machende, sichtlich alkoholisierte Ehemann waren deutliche Indizien dafür, dass Frieda S. sicher nicht in ihrem Bett verstorben war. Ich bestellte daher einen Grazer Gerichtsmediziner zum Sachverständigen und ordnete die Obduktion der Leiche an.

Die Leiche der Frau wurde zum kleinen örtlichen Friedhof gebracht, wo sich ein kleines Leichenhaus mit einem Seziertisch befand. Das Leichenhaus wurde vom Ortspfarrer, einem frommen, aber etwas einfältigen Mann geöffnet. Während wir auf den Gerichtsmediziner warteten, erzählte uns der Pfarrer, dass die Frieda eine fromme Kirchengeherin war, während ihr Ehemann nur selten in die Kirche ging. Nach Meinung des Pfarrers war Adolf S. ein braver, fleißiger Mann, der aber seit seiner Pensionierung dem Alkohol ergeben war.

Zu dieser Zeit wurde die sogenannte „Theresiana“ noch sehr ernst genommen. Kaiserin Maria Theresia hatte verordnet, dass in Fällen, wie etwa dem Gegenständlichen, der Gerichtskommission Vorspann (die für Steigungen zusätzlich erforderlichen Zugtiere) und Verpflegung bereitzustellen sind. Während wir noch warteten erschien der Bürgermeis­ter persönlich mit einer Flasche Cognac und unterrichtete mich, dass für unsere Verpflegung, nach der Obduktion, im Gemeindegasthaus Vorsorge getroffen wurde. Bis zum Eintreffen des Gerichtsmediziners und seines Prosekturgehilfen hatte der Herr Pfarrer bereits ausgiebig dem Cognac zugesprochen.

Der Gerichtsmediziner ersuchte um ein Schneidbrett und einen Kübel, da er das Gehirn und die Leber entnehmen wolle. Der Pfarrer brachte diese Gerätschaften unverzüglich und flüsterte mir zu, dass aber seine Haushälterin davon nichts erfahren dürfe, weil diese sonst das Schneidbrett und den Kübel nicht mehr verwenden würde.

Als der Gerichtsmediziner meiner Schriftführerin schließlich diktierte, dass Frieda S. durch massive stumpfe Gewalt gegen ihren Kopf eines gewaltsamen Todes gestorben ist, nahm der Pfarrer erst einen neuerlichen kräftigen Schluck vom Gemeindecognac und rief dann händeringend in weinerlichem Ton: „Hör ma auf. Die Frieda hat den Löffel weggelegt. Da müssen wir ja net weitermachen. Ich weiß ja nicht, was ich sonst bei der Lei (Begräbnis) sagen soll!“

Der Pfarrer hatte seinen Seelenfrieden wiedergefunden. Die Frieda war nämlich nicht ermordet worden. Sie war, während ihr Ehemann im Wirtshaus zechte, über die Treppe gestürzt und hatte sich dabei tödliche Verletzungen zugezogen. Der Ehemann hatte sie, gemeinsam mit einem Freund, die Treppe hinaufgetragen und ins Bett gelegt, weil er meinte, es wäre geziemender und gäbe weniger Anlass zu Tratsch, im Bett zu sterben.


Gloggnitz 1976. Eine meiner ersten Verhandlungen betraf eine Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB. Der bisher unbescholtene Helmut K. hatte seine Ehefrau Renate K. im Zuge einer ehelichen Auseinandersetzung geschlagen und dabei leicht im Gesicht verletzt (zwei blaue Augen). Die Anzeige wurde wegen der erheblichen Lärmentwicklung von den Nachbarn erstattet.

Helmut K. erschien sichtlich zerknirscht vor Gericht. Er beteuerte seine Ehefrau zu lieben und gab an, er habe sie keinesfalls verletzen wollen. Er sei Mitglied der örtlichen Blasmusikkapelle und da fänden drei Mal in der Woche Proben statt, vor Konzerten auch öfter. Nach den Proben käme es stets zu einem geselligen Beisammensein, bei dem meist viel Alkohol getrunken werde. Wenn er dann nach Hause komme, gäbe es wegen seiner Alkoholisierung immer wieder Streit und dann komme ihm halt leicht die Hand aus. Er bereue zutiefst, seine Frau verletzt zu haben.

Die Ehefrau Renate K. erschien im Zeugenstand und machte nicht von ihrem Entschlagungsrecht Gebrauch. Ja, es sei richtig, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen worden war. Sie wolle aber nicht, dass ihr Mann bestraft werde. Sie selbst hätte niemals Anzeige erstattet. Es sei am Anfang ihrer Ehe viel schlimmer gewesen, da sei sie mehrmals in der Woche, immer wenn Helmut K. vom Proben betrunken nach Hause kam, verprügelt worden. Verletzungen habe sie aber eigentlich nie erlitten.

Trotzdem war ihr dies schließlich zu viel und es sei zu einer Aussprache gekommen. Bei dieser Aussprache seien zwei Kollegen ihres Ehemannes von der Blasmusikkapelle und zwei ihrer Freun­dinnen anwesend gewesen. Dabei sei es zu einem Kompromiss gekommen. Man habe vereinbart, dass Helmut K. sie höchstens einmal in der Woche schonend schlagen dürfe. Daran habe sich ihr Ehemann seither auch gehalten. Zum Beweis ihres Vorbringens zog sie ein fein säuberlich zusammengerolltes DIN A3-Blatt aus ihrer Tasche, auf dem die getroffene Vereinbarung in Schönschrift festgehalten war. Die Vertragsteile, Renate und Helmut K., sowie die Zeugen hatten den „Vertrag“ unterzeichnet. Ich habe nicht versucht, den Eheleuten zu erklären, dass es sich dabei um einen „sittenwidrigen“ und daher ungültigen Vertrag handelte. Die Möglichkeit einer Diversion gab es damals noch nicht. Ich verhängte eine bedingt nachgesehene, sehr moderate Geldstrafe. Der „staatsanwaltliche Funktionär“, ein pensionierter Gendarmeriebeamter, und Helmut K. verzichteten auf Rechtsmittel und die Eheleute verließen Arm in Arm den Gerichtssaal.

Alfred Ellinger

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