Kippt unser System?
- Ernst Vitek
- 18. Nov.
- 7 Min. Lesezeit
Seit einigen Jahren, insbesondere seit der Corona-Pandemie, scheint unser gesellschaftliches System ins Wanken geraten zu sein. Es ist nicht mehr so stabil, wie wir es uns wünschen würden.

Bei Kontakten mit vielen Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stelle ich fest, dass die Meinung der politischen Parteien und deren Vertreter oft vom Mainstream der Ansichten abweicht. Viele Politiker bemühen sich Maßnahmen zu setzen, die von gutem Willen getragen sind. Offensichtlich setzt man sich aber zu wenig mit der Meinung der gesellschaftlich interessierten Menschen auseinander.
Parteien und deren Vertreter agieren immer noch häufig nach alten Mustern und Konzepten. Lobbyingpolitik bzw. Klientelpolitik findet im Sinne ihrer Anhänger und Interessentengruppen statt. Diese repräsentieren aber nur einen sehr schmalen Ausschnitt der Gesamtbevölkerung. Das politische Handeln geht daher an den größten Teilen der Menschen in unserem Land vorbei. Das ist auch im sogenannten vereinten Europa so, wo das Interesse daran, was in dieser Gemeinschaft beschlossen und umgesetzt wird, bei vielen Menschen nachlässt.
Wahlverhalten verändert sich. Woran lassen sich diese Ansichten festmachen? Betrachtet man zum Beispiel das Verhalten bei unterschiedlichen Wahlen in unserem Land und auch bei der EU-Wahl, wird man feststellen müssen, dass große Teile der Wahlberechtigten sich an diesen Prozessen nicht beteiligen. Das spricht dafür, dass viele Menschen jegliches Interesse am politischen System verloren haben, weil sie offensichtlich der Meinung sind, dass ohnehin nichts veränderbar ist.
Im heurigen Jahr fanden die Wahlen für die Wirtschaftskammer statt. Die Wahlbeteiligung betrug nur 26,5 Prozent. Gegenüber den Wahlen 2020 bedeutet das ein Minus von 7,2 Prozentpunkten. Trotzdem wurde von den obersten Repräsentanten dieser Kammer das Ergebnis großartig gefeiert und es gibt keine Bestrebungen, etwas zu verändern. Hauptsache, die entsprechenden Funktionen und „Posten“ waren nicht in Gefahr geraten.
Die Beteiligung der Bürger hat sogar bei den Wahlen für die Gemeindevertretungen abgenommen. In den Gemeinden werden die jeden Einzelnen betreffenden Entscheidungen umgesetzt. Es werden Schulen und Kindergärten gebaut, Einrichtungen für alte und kranke Menschen, Straßen und vieles mehr. Gerade hier müsste das Interesse an Entscheidungen besonders groß sein. Scheinbar fühlen sich aber auch hier viele Bürgerinnen und Bürger nicht richtig vertreten. Sie sind offenbar der Ansicht, dass ihre Meinung wenig bis gar nicht zählt.
Wo lassen sich Defizite verorten? Wo krankt es nach Ansicht vieler Menschen in unserer Gesellschaft besonders? Gerade die wichtigsten Angelegenheiten liegen im Argen. Das sind die Sicherheit, die Gesundheitsversorgung, die Bildung, die soziale Absicherung, die Bereitstellung von Energie, der Verkehr bzw. der öffentliche Verkehr sowie die Landesverteidigung und die Justiz, um nur einige Beispiele zu nennen. Es handelt sich also um die wichtigsten Säulen unserer Gesellschaft. In allen diesen Bereichen sind politische Vertreter stark präsent und nicht bereit, alte Strukturen aufzugeben und sich neuen Konzepten gegenüber offen zu zeigen.
Was sind die Ursachen? Wenn ein junger Mensch schwer bewaffnet in seine ehemalige Schule eindringt, dort zehn Menschen brutal ermordet und sich anschließend selbst richtet, ist das nicht nur ein sehr bedauernswerter Vorfall. Es ist ein deutliches Signal, dass einiges schief läuft im Land und in der Gesellschaft. Wie verzweifelt muss dieser Mensch sein, dass er solche Handlungen setzt? War er wütend, frustriert, fühlte er sich allein gelassen, in ein Eck gestellt, unterdrückt, hoffnungslos?
Bei einem Gespräch mit einem Bildungsexperten erfuhr ich, dass laufend, in allen österreichischen Bundesländern, Terrordrohungen und Ankündigungen von Anschlägen durch Schülerinnen und Schülern geäußert werden. Werden diese Signale, man könnte sagen Hilferufe, überhört oder nicht beachtet?
Selbstverständlich kann man hier im Sinne des Strafgesetzes vorgehen und die Täterinnen und Täter zur Verantwortung ziehen. Wichtig wäre es allerdings, die Beweggründe hinter diesen Vorfällen zu ergründen. Offensichtlich sind viele junge Menschen so frustriert und verzweifelt, haben keine positiven Zukunftsvisionen, dass sie zu solchen Taten schreiten.
Veraltetes Bildungssystem. Unser Bildungssystem ist derart veraltet, dass keine Visionen vermittelt werden. Es wird nicht gelehrt und Wissen vermittelt. Schon beim Eintritt in die unterste Stufe der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen werden die Kinder bewertet, frustriert, ihre Neugier wird ausgebremst. Ihre Anlagen werden in keiner Weise gefördert. Kinder werden gegeneinander ausgespielt, was im Weiteren zu gegenseitiger Gewalt, Mobbing und schließlich zur Vernachlässigung der eigentlichen pädagogischen Ziele führt. Viele Pädagoginnen in Kindergärten, Schulen der unterschiedlichen Stufen sind massiv frustriert, demotiviert und oft auch hilflos. Auf diese Weise werden Talente und Anlagen verschwendet, die persönliche Entwicklung von Kindern wird behindert. Resignation in diesen Bereichen breitet sich aus. Das hat zur Folge, dass viele Kinder frühzeitig aus dem Schulsystem aussteigen und ohne Schulabschluss in das Arbeitsleben integriert werden sollen.
In vielen Bereichen der Wirtschaft machen sich die Folgen bereits massiv bemerkbar. Handwerksbetriebe klagen über mangelnden Nachwuchs, weil viele junge Bewerber die einfachsten Aufgaben im Bereich Rechnen, Schreiben und Lesen nicht lösen können. Die Kinder und Jugendlichen werden oft durch die Schulen geschleust und scheiden am Ende mit äußerst prekären Kenntnissen und Fähigkeiten aus. Die zu befürchteten Folgen werden von der Politik negiert, obwohl gerade fehlende oder mangelhafte Bildung ein Faktor ist, der in die Kriminalität führen kann.
Begabte und Unbegabte. Dennoch hält man an alten Strukturen fest, trennt die Kinder schon im Alter von 10 Jahren in so genannte Begabte und Unbegabte. Diejenigen, die in ein Gymnasium kommen, unterliegen erheblichem Leistungsstress und schaffen es oft nur mit Nachhilfe- und Fördermaßnahmen dort zu bestehen oder scheitern. Viele Eltern sind verzweifelt, aber auch desinteressiert, weil sie durch Stress in ihrer Arbeit oder Überforderung bezüglich der Erziehungs- und Entwicklungsmaßnahmen für ihre Kinder aufgegeben haben.
Ein gutes Bildungssystem sollte in der Lage sein, alle Schüler und Schülerinnen auf ihr späteres Leben gut vorzubereiten. Sie sollten offen für andere Menschen, gesellschaftliche und politische Entwicklungen sein und vor allem eine soziale Einstellung entfalten. Daher ist es nicht in erster Linie wichtig, welches und wieviel Wissen erworben wird, sondern wie sie ihre Kommunikation gegenüber anderen Menschen jeder Altersstufe gestalten können. Nicht zuletzt garantiert ein gutes Bildungssystem, dass wir in einer offenen, liberalen Gesellschaft leben, wo jeder Mensch als gleich anzusehen ist, egal, über welche Fähigkeiten und Ressourcen er verfügt.
Zum eigenen Vorteil. Derzeit kommen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht die Qualifiziertesten in politische Ämter. Eher solche, die sich Privilegien und materielle Vorteile sichern bzw. Macht ausüben wollen. Übernimmt jemand ein politisches Amt, sollte sie bzw. er sich vor Augen führen, dass im Mittelpunkt die politische Institution und die Menschen stehen sollen, welche Teil der staatlichen und gemeinschaftlichen Strukturen sind.
Was noch dazu kommt ist, dass unser Staat einfach zu viele Verwaltungsinstanzen und eine enorme Bürokratie aufweist. Dies ist zwar schon lange bekannt, es wird aber weiter gewurschtelt und es ändert sich leider nichts. Wie heißt es doch so schön? „Viele Köche verderben den Brei!“
Das ist nicht nur im Bereich der Bildung so, sondern auch bei der Sicherheit, der Gesundheitsversorgung, der sozialen Absicherung, der Bereitstellung von Energie, dem Verkehr sowie der Landesverteidigung und der Justiz. Wäre es nicht zweckmäßig, solche eminent wichtigen Angelegenheiten zentral zu organisieren und zu administrieren?
Bürokratie. Wir sind ein verhältnismäßig kleines Land und haben einen aufgeblähten bürokratischen Apparat, der sich oft gegenseitig behindert und dadurch enorme Kosten verursacht. Noch dazu sind für solche zentralen Fragen Experten gefragt und nicht irgendwelche Landesfürsten bzw. Fürstinnen, die meist mehr als ahnungslos sind, aber ihren politischen Einfluss nicht aufgeben wollen.
Wenn Bürokratie und Verwaltungsinstanzen reduziert werden, können große finanzielle Mittel frei werden. Die wären dann dort einsetzbar, wo bereits große Not herrscht. In den letzten Wochen und Monaten wurde immer klarer, dass Gemeinden die budgetären Mittel für zahlreiche Bereiche, für die sie zuständig sind fehlen. Sie müssen in zentralen Bereichen sparen. Dadurch entstehen große Defizite in der Versorgung und Infrastruktur. Das betrifft Schulen, Straßen, soziale Einrichtungen usw. Zu befürchten ist, dass diese Entwicklung weitergeht und in vielen Gemeinden zu einem Kollaps führt. In den Medien ist vor kurzem die Information aufgetaucht, dass sogar eine Landeshauptstadt vor der Pleite steht. Auch von vielen größeren Städten wird das kolportiert.
Der Bereich Sicherheit ist ebenfalls durch die budgetäre Situation bedroht. Viele wichtige Projekte müssen storniert oder auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Überstunden sollen gestrichen bzw. erheblich eingeschränkt werden. Gerade in einer solch unsicheren Zeit, in der viele Bedrohungen existieren, die vom Sicherheitsbereich aufgeklärt, präventiv unterbunden werden sollen, sollte das die Alarmglocken läuten lassen. In den Städten, immer mehr aber auch am Land, steigen die Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Eine Rücknahme von Maßnahmen ist hier das falsche Zeichen.
Was ist also seitens der Politik und der Verantwortungsträger zu tun? Einsparungen wären im Bereich der Bürokratie und Verwaltung erforderlich und zweifellos auch möglich. Damit würden Mittel für die genannten wichtigen Bereiche frei.
Viele Menschen ziehen sich aus diesen Bereichen zurück. Ärzte und Pflegekräfte kündigen in Krankenhäusern, Lehrerinnen und Lehrer verlieren ihr Engagement. Auch in der Polizei ist ein Motivationsverlust feststellbar. Es wird kolportiert, dass Beamte ihren Job aufgeben, weil sie sich zu wenig unterstützt fühlen und vieles falsch läuft. In den Justizanstalten fehlt dringend notwendiges Personal und diese Einrichtungen, wie immer wieder publiziert wird, befinden sich teilweise in einem prekären Zustand.
Reformbedarf. In Dänemark haben zahlreiche Reformen stattgefunden. Es gilt beispielsweise als Vorreiter im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Durch stetige Reformen ist das Gesundheitssystem dort verbessert worden. Auch der Arbeitsmarkt wurde unter sozialdemokratischer Führung reformiert. Ergebnis ist eine hohe Erwerbstätigkeit und geringe Arbeitslosigkeit. Die dänische politische Kultur ist konsensorientiert und stellt Sachlösungen über Parteiprofilierung. Es gibt ein hohes gesellschaftliches Vertrauen in den Staat, die Institutionen und untereinander. Unpopuläre Entscheidungen erfahren einen breiten Konsens, sodass kein Systemversagen droht. Reformen werden nicht in Hinterzimmern ausgearbeitet und beschlossen, sie entstehen in öffentlichen, transparenten Debatten. Dänemark profitiert von einer zentraleren Verwaltungsstruktur, die föderale Reibungsverluste vermeidet.
Ehrgeizige Klimaziele. Auch in der digitalen Verwaltung ist Dänemark fortschrittlich. Mit einem zentralen Login-System können Bürger fast alle Behördenwege online sicher, schnell und effizient erledigen. Gleichzeitig verfolgt das Land ehrgeizige Klimaziele. Kopenhagen will 2025 klimaneutral sein. Mittels Windkraft wird bereits rund 40 Prozent des nationalen Stromverbrauchs gedeckt. Die Anzahl der Krankenhäuser wurde drastisch reduziert, spezialisierte Superkrankenhäuser wurden eingerichtet.
Man höre und staune: In Dänemark erhalten Politiker kommender Generationen keine großzügigen lebenslangen Pensionen mehr. Sie müssen künftig in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Im Gegenzug erhalten Politiker als Ausgleich höhere Diäten.
Könnte dieses Land nicht ein Vorbild für Österreich sein? Bei uns wird schon sehr lange über Migration und deren Folgen diskutiert. Dänemarks migrationspolitischer Ansatz ist zunehmend restriktiv. Vorbehalte bei der EU-Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres ermöglichten Abweichungen von der EU-Einwanderungs- und Asylpolitik.
Es ist höchst an der Zeit, dass sämtliche konstruktiven Kräfte in Österreich nunmehr zusammenarbeiten und alle notwendigen Maßnahmen setzen, um unser Land wieder an die Spitze zu führen.




Kommentare