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  • Rosemarie Pexa

Kampfkunstmentoring für Gewaltbetroffene

Eine ehemalige Richterin zeigt mit Meditation, Schwert und Bogen einen Weg aus der Opferfalle.



Ein Dojo, ein traditioneller fernöstlicher Übungsraum, im 3. Bezirk. Ziegelwände, ein mit Matten ausgelegter Boden, die Stirnseite des Raumes zieren Rollbilder mit japanischen Schriftzeichen, in der Mitte das Zeichen für Achtsamkeit. Auf der gegenüberliegenden Seite Schwerter, Kampfstöcke und eine Bogenschieß-Zielscheibe. Die reduzierte Ästhetik des Raumes strahlt Ruhe aus. Ebenso wie Mag.a Doris Nachtlberger, Kampfkunstmentorin, Budopädagogin und -therapeutin.

Bei der Kampfkunst, die sie in ihrem Dojo im therapeutischen Kontext vermittelt, geht es nicht darum, einen Gegner zu bezwingen, sondern die eigene Angst. Ihre Schüler – fast ausschließlich Schülerinnen – sind Gewaltbetroffene, denen eine Kombination von Elementen aus Qi Gong, Tai Chi, Kung Fu, Iaido und Escrima helfen soll, die psychischen Folgen des Erlebten auszugleichen, wieder Selbstvertrauen und Lebensmut zu gewinnen. Die Übungen sind auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden abgestimmt und finden in Form von Einzelsettings statt.

Die Methode des Kokoro-Do-Kampfkunstmentorings, die Nachtlberger als Hilfe zur Selbsthilfe entwickelt hat, ist nicht ihre erste Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt und deren Folgen. „Nach einer schwierigen Kindheit und Jugend habe ich die heilsame Wirkung von Kampfkunst selbst erfahren, die mich seit fast 30 Jahren begleitet und prägt. Neben zahlreichen Fortbildungen und Selbststudien zum Thema Gewalttraumata habe ich Ausbildungen in Budotherapie und -pädagogik sowie in Natur-Resilienz-Training absolviert“, so Nachtlberger.


Täter- und Opferarbeit. Bis 2020 war sie Richterin am Bezirksgericht Floridsdorf, wo sie häufig mit jugendlichen Gewalttätern konfrontiert war. Da sie nicht nur repressiv, sondern auch präventiv tätig sein wollte, konzipierte und realisierte sie mehrere Projekte im Rahmen der Täter- und der Opferarbeit. Dazu zählten unter anderem das gemeinsam mit der Polizei und mit Schulen durchgeführte Gewaltpräventionsprojekt „Judge4U“, Projekte für die Wiener Kinder- und Jugendhilfe (Ma 11), die Frauenhäuser Wien und den Verein Hemayat, der Folter- und Kriegsüberlebende betreut.

„Durch meine Lebens- und Berufserfahrung habe ich gelernt, wie Gewalt entsteht, wie sie 'vererbt' wird und sich kollektiv ausbreitet. Kinder, die häusliche Gewalt direkt oder indirekt miterleben, sind besonders gefährdet, als Erwachsene ebenfalls im Kreislauf der Gewalt zu landen, da ihr Gehirn Gewalt als 'normales Alltagsrisiko' abgespeichert hat. Mütter in der Opferfalle verstärken die Risikofaktoren im Sozialisationsprozess ihrer Kinder, ebenfalls zum Opfer, aber auch zum Täter zu werden“, analysiert Nachtlberger eine Dynamik, die im schlimmsten Fall Frauenmorde – die in Österreich verglichen mit anderen EU-Ländern besonders häufig sind – zur Folge haben.

Körperliche Gewalt besitzt laut Nachtlberger immer auch eine psychische Komponente. Der Täter vermittelt dem Opfer, dass es „nicht richtig“, nichts wert sei, was – insbesondere in Gewaltbeziehungen – bis zum Absprechen des Existenzrechts als menschliches Wesen reicht. Das bewirkt, dass Gewaltbetroffene diese Sichtweise übernehmen, sich schämen, die Schuld bei sich selbst suchen und ihr Selbstbewusstsein verlieren. „Gewaltopfer fühlen sich im Alltag oft schwach, aber nicht, weil sie schwach sind, sondern weil die Kompensation von Gewalttraumata sehr viel Kraft und Lebensenergie kostet“, erklärt die Kampfkunstmentorin.


Psychische Auswirkungen. Diese psychischen Auswirkungen sind auch äußerlich sichtbar – etwa, indem sich die Person klein macht und eine latente muskuläre Anspannung im Bereich von Nacken, Schultern und Rücken aufweist, was eine tiefe, regelmäßige Atmung behindert. Betroffene leiden besonders stark unter Stress, können sich oft nur schwer konzentrieren und sind in ihrer Handlungsfähigkeit und Lebensqualität beeinträchtigt. All diese Symptome wirken auch als Signale gegenüber potenziellen Tätern, wodurch ein Entkommen aus der Opferfalle erschwert wird.

Kampfkunst fördert eine aufrechte Haltung, stärkt den Körper und damit auch die Psyche. Bei Gewaltopfern ist allerdings Vorsicht geboten. Insbesondere Szenarien, in denen der sportliche „Kampf“ mit einem Partner geübt wird, können Gefühle triggern, die die Betroffenen bei körperlichen Angriffen empfunden haben. Diese Retraumatisierung lässt sich verhindern, indem als Partner ausschließlich eine einfühlsame, als Kampfkunstmentor geschulte Person fungiert.

Das Ziel ist daher auch nicht das Erlernen einer Kampfkunst oder der Sieg in Wettkämpfen, sondern das Sammeln von Lernerfahrungen, die sich auf das Verhalten im Alltag positiv auswirken. Um einen Lerneffekt zu erzielen, kann allerdings auch beim Kampfkunstmentoring nicht auf Konfrontationen verzichtet werden. Nachtlberger nennt drei Arten der Auseinandersetzung, die ihre Klientinnen trainieren: bei der Meditation die Konfrontation mit sich selbst, beim Bogenschießen die Konfrontation mit einem Ziel und bei Partnerübungen mit Holzschwertern oder Stöcken die Konfrontation mit einem Gegenüber.

Damit diese Konfrontationen konstruktiv erfahren werden, ist ihre Einbettung in einen absolut vertrauensvollen, aber auch humorvollen Rahmen notwendig. „Es darf und soll auch viel gelacht werden, denn Lachen entspannt und 'öffnet das Herz'. Kann sich das Herz wieder öffnen, wird auch die Lebenskraft wieder spürbar und ein Zugang zu den eigenen Ressourcen ermöglicht. Als Kampfkunstmentorin begegne ich gewaltbetroffenen Frauen nicht mit dem 'Opfer-Fokus', sondern betrachte sie voller Respekt, als das, was sie sind: starke Überlebende“, so Nachtlberger.

Wie herausfordernd Gewaltbetroffene die jeweilige Trainingssituation empfinden, kann sich von Person zu Person unterscheiden. Für manche stellt es bereits eine Überwindung dar, sich für eine Schnupperstunde anzumelden. Das galt auch für Elisabeth. Aufgrund von langjährigem schwerstem sexuellem Missbrauch, massiver Gewalterfahrung und wiederholtem Freiheitsentzug kämpft die Alleinerzieherin schon lange mit starken gesundheitlichen Beschwerden, Schlafstörungen, Angst- und Panikzuständen sowie Phasen großer Erschöpfung und Verzweiflung.

Im ersten Corona-Jahr verschlechterte sich Elisabeths psychische Situa­tion. Zu dem Gefühl, in der Wohnung „eingesperrt“ zu sein, kamen die Belas­tung durch das Distance Learning mit ihrem Kind sowie Einsamkeit und Isolation. Die Notwendigkeit zusätzlicher Unterstützung wuchs. „Ich habe mehrere Gesprächstherapien und stationäre Aufenthalte hinter mir. Die Budotherapie bei Doris hat mich viel Überwindung gekostet, war aber wirklich zentral, um aus der Krise herauszukommen“, stellt Elisabeth fest.

In der Schnupperstunde geht es darum, der Klientin Sicherheit zu geben sowie eine positive Beziehung zwischen ihr und der Mentorin aufzubauen. Es werden unterschiedliche Techniken und „Werkzeuge“ ausprobiert, um herauszufinden, welche die Klientin als angenehm empfindet und welche negativen Stress verursachen. Jede Übung kann, falls sie als zu belastend erlebt wird, zu jedem Zeitpunkt abgebrochen werden. Abschließend hat die Klientin die Möglichkeit, Feedback zu geben.

Doris Nachtlberger: „Durch meine Lebens- und Berufserfahrung habe ich gelernt, wie Gewalt entsteht, wie sie 'vererbt' wird und sich kollektiv ausbreitet.

Übungen. Die Schnupperstunde und die folgenden Einheiten beginnen und enden immer mit einer achtsamkeitsbasierten Meditations- und Qi-Gong-Übung. Nicht allen Klientinnen gelingt es, schnell zur Ruhe zu kommen und dabei den Stress des Alltags zu vergessen. „Sich zu entspannen ist bei einer Traumafolgestörung fast das Schwierigste, das es gibt“, weiß Elisabeth. „Bei dem Fokus nach Innen komme ich schnell in Kontakt mit meinem inneren Kampf und all den schweren Gefühlen. Mich dem zu stellen, gelingt nur durch den geschützten Rahmen und das gewachsene Vertrauen zu Doris“.

Nachtlberger setzt – wie bei allen Übungen – darauf, jede Klientin in ihrem eigenen Tempo an die jeweilige Technik heranzuführen, bis diese ihre heilende Wirkung entfalten kann. Weiters wird stets auf die Balance zwischen aktivierenden und beruhigenden Übungsanteilen geachtet, um das Bewusstsein für den natürlichen Rhythmus des Nervensystems in Hinblick auf die eigene Stressregulierung zu schulen.

Einen meditativen Charakter haben dabei die langsam und konzentriert ausgeführten Bewegungen des Shaolin-Qi-Gong. Da sie wenig Platz benötigen und ohne Partner ausgeführt werden, eignen sie sich auch als kurze Übungen für zu Hause. „Die Qi-Gong-Grundübungen beruhigen den Geist, fördern eine aufrechte Körperhaltung und verbessern die Atmung. Das wirkt sich positiv auf das autonome Nervensystem aus und senkt das subjektive Stressniveau“, erklärt Nachtlberger.

Bei Partnerübungen mit Stock oder Schwert lernen die Klientinnen einerseits, wieder in Beziehung zu gehen und einem Gegenüber zu vertrauen, anderseits auch, sich selbst innerhalb einer Konfrontation zu vertrauen und die Angst vor ihrer eigenen Kraft zu überwinden. Gewaltopfer, die selbst erlebt haben, wie zerstörerisch Körperkraft wirken kann, fürchten oft, bei deren Einsatz ihre lange unterdrückte Wut nicht kontrollieren zu können.

Besondere Faszination übt auf viele Gewaltbetroffene, wie auch auf Elisabeth, das Schwert aus. „Mit dem Schwert in der Hand fühle ich mich automatisch stärker. Es beruhigt mich auf eine besondere Art“, beschreibt sie. Nachtlberger hat eine Erklärung dafür: „Das Schwert bietet Schutz, weil es den anderen auf Distanz hält, und aktiviert in der Partnerübung die Fähigkeit, eigene Grenzen mutig wahrzunehmen und den Handlungsspielraum zu bestimmen. Das alles auf eine kontrollierte Art und Weise. Verantwortung und Vertrauen im Wechselspiel achtsamer Konfronta­tion. Ein Schwert gibt gewaltbetroffenen Menschen ihre Würde zurück.“

Ähnlich wie das Schwert spricht auch der Bogen den archaischen Archetypus der „inneren Kriegerin“ an, so die Kampfkunstmentorin. Der aufrechte Stand und die Konzentration auf ein Ziel stellen einen Gegenpol zu einer oft jahrelang nicht überwundenen Opferhaltung dar und tragen somit dazu bei, ein neues, positives Selbstbild entstehen zu lassen.

Im Unterschied zu Gesprächstherapien müssen sich Gewaltbetroffene das Erlebte nicht wieder in Erinnerung rufen und davon erzählen. „In einer Gesprächstherapie hast du nur das Wort. Du kannst das, was dich sprachlos gemacht hat, aber oft nicht in Worte fassen. In der Budotherapie geht es nicht darum, etwas zu erklären, weil Doris mich auch ohne Worte versteht. Sie spürt, was gerade am schwierigsten ist und an die Oberfläche drängt. Ich fühle mich durch diese Art von Körperarbeit nach jeder Einheit leichter, mutiger und stärker. Du bekommst dabei Stück für Stück das verlorene Vertrauen in dich selbst, in den Kontakt zu anderen Menschen, in die Welt zurück. Es ist sehr berührend zu spüren, wenn du nicht mehr jeden Tag nur ums Überleben kämpfst, sondern auch wieder Zuversicht und Freude empfinden kannst“, erzählt Elisabeth. Da es beim Kampfkunstmentoring nicht auf die Sprache ankommt, ist diese Methode auch für Personen mit geringen Deutschkenntnissen geeignet.


Klienten. Der überwiegende Teil von Nachtlbergers Klientel hat bereits mehrere Therapien, zum Teil auch längere stationäre Aufenthalte, hinter sich. Der Altersschnitt liegt bei 40 Jahren – ein Alter, in dem sich früher erlebte Traumata oft wieder bemerkbar machen. Rund 98 Prozent der Klienten sind weiblich, die wenigen Burschen bzw. Männer wurden im Rahmen von Projekten mit Schulen oder Hemayat betreut. Bei fast allen Frauen handelt es sich um alleinerziehende Mütter.

Da diese zu den am stärksten armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen gehören, können sie sich die regulären Kosten für das Kampfkunstmentoring/Budotherapie – in der Regel fünf bis 20 Einheiten – meist nicht leisten. Um ihnen trotzdem eine Teilnahme zu ermöglichen, wurde ein privater, treuhändig verwalteter Sozialfonds eingerichtet. Nach bald drei Jahren Pandemie und in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit sind die Spendengelder aufgebraucht; Nachtlberger hofft auf „Nachschub“, um ihr Projekt weiterführen zu können.

Für eine weiter gefasste Zielgruppe ist das jüngste Projekt von Nachtlberger gemeinsam mit dem Natur-Resilienz-Trainer Udo Feldmann, „Naturresilienz & Co.“, gedacht. Erlebnispädagogische Elemente, die Schulung der Achtsamkeit, Kampfkunst-Übungen in der freien Natur und Survivaltechniken sollen insbesondere Menschen mit hoher Arbeitsbelastung und Burnout-Gefährdeten, aber auch Schulklassen helfen, fernab vom Alltag Kraft zu tanken. Elisabeth hat das Resilienztraining als „Testperson“ bereits ausprobiert. Ihr Resümee: „Meine Erfahrung war: So, wie du bist, ist es in Ordnung. Du erfährst dabei viel Wertschätzung und Respekt – auch von der Natur.“


Kontakt:

Spendenkonto:

„KOKORO DO – SOZIALFONDS“

Erste Bank

IBAN: AT04 2011 1801 1054 4004





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