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Glaube, Gefahr, Gesellschaft

  • -pa-
  • 24. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

Der Tätigkeitsbericht der Bundesstelle für Sektenfragen für das Jahr 2024 gibt einen tiefen Einblick in die aktuellen Entwicklungen, Herausforderungen und Trends im Bereich weltanschaulicher Gemeinschaften, esoterischer Angebote und sektenähnlicher Aktivitäten in Österreich.


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Der Sektenbericht 2024 dokumentiert einen deutlichen Anstieg an Beratungsfällen, eine Verschärfung ideologischer Einflussnahmen und eine wachsende digitale Präsenz problematischer Akteure. Im Mittelpunkt stehen die psychosoziale Beratung, das Monitoring von Verschwörungstheorien und die Prävention von Gefährdungen, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Die Analyse zeigt, wie vielfältig und komplex das Phänomenfeld ist und wie wichtig eine kontinuierliche Beobachtung und fachliche Weiterentwicklung bleibt.


Der Auftrag. Die Bundesstelle für Sektenfragen (BUS) wurde 1998 als selbstständige Anstalt öffentlichen Rechts gegründet und untersteht der Aufsicht des Bundeskanzleramts. Ihr gesetzlicher Auftrag umfasst die Dokumentation und Information über Gefährdungen, die von sogenannten „Sekten“ oder sektenähnlichen Aktivitäten ausgehen können, sofern ein begründeter Verdacht besteht und die Gefährdung einen oder mehrere der folgenden Bereiche betrifft:

• Leben oder Gesundheit von Menschen, 

• Freie Entfaltung der Persönlichkeit, einschließlich Religions- und Weltanschauungsfreiheit, 

• Integrität des Familienlebens, 

• Eigentum oder finanzielle Eigenständigkeit, 

• Geistige und körperliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften sowie deren Einrichtungen sind explizit vom Zuständigkeitsbereich der Bundesstelle ausgenommen. Der Begriff „Sekte“ wird in der täglichen Arbeit nicht zur Charakterisierung von Gemeinschaften verwendet, sondern es werden spezifische Merkmale, Strukturen und individuelle Auswirkungen untersucht.


Beratungsfälle und Kontakte. Im Jahr 2024 wurden 483 Beratungsfälle dokumentiert, die insgesamt 1.957 Kontakte mit primär oder sekundär betroffenen Personen umfassten. Die Zahl der Beratungsfälle stieg im Vergleich zum Vorjahr um 20 %, die Zahl der Beratungskontakte sogar um 36 %. Insgesamt wurden Anfragen zu 257 unterschiedlichen Gemeinschaften, Angeboten und Themen gestellt.

Die häufigsten Anfragen bezogen sich auf:

• Esoterik (143 Fälle), 

• Angebote mit christlichem Hintergrund (142 Fälle), 

• Coaching-Angebote (51 Fälle).


Gefährdungsbereiche und Risikofaktoren.

Die drei am häufigsten festgestellten Gefährdungen betrafen:

• Leben und Gesundheit (168 Fälle),

• Soziales Netz (116 Fälle), 

• Finanzen und Eigentum (99 Fälle).

Anzeichen für Kindeswohlgefährdungen gab es in 80 Fällen. Die größten Risikofaktoren waren Frauenfeindlichkeit (34 Fälle), Gewalt (33 Fälle) und endzeitliche Inhalte (32 Fälle).


Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit. 2024 führte die Bundesstelle 128 Vernetzungs- und Informationstreffen mit anderen Institutionen und Experten durch. Es wurden 39 Beiträge zu Tagungen, Fortbildungen und Podiumsdiskussionen geleistet und an 43 Veranstaltungen teilgenommen. Die Online-Tagung „Glaubensfreiheit vs. Kindeswohl“ erreichte 375 Teilnehmer. Insgesamt gingen 82 Medienanfragen ein.


Online-Monitoring und Verschwörungstheorien. Ein zentrales Arbeitsfeld war das systematische Online-Monitoring von Verschwörungstheorien, insbesondere im Kontext der österreichischen COVID-19-Protestbewegung. Die Analyse von 287 Telegram-Kanälen im Zeitraum Januar 2020 bis September 2023 zeigte eine starke Verbreitung von Narrativen wie „Great Reset“, „QAnon“ und antisemitischen Stereotypen. Die Reichweite dieser Kanäle blieb auch nach dem Ende der Pandemie-Maßnahmen hoch, mit Millionen täglichen Aufrufen.  Die Untersuchung belegte eine enge Vernetzung unterschiedlichster Milieus – von Rechtsextremismus über Esoterik bis zu alternativen Medien. Die Verbreitung verschwörungstheoretischer Inhalte wurde durch die starke Vernetzung und die Heterogenität des Netzwerks begünstigt. Besonders problematisch ist die gezielte Dämonisierung von Minderheiten und die Delegitimierung demokratischer Institutionen.


Glaubensfreiheit und Kindeswohl. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem Spannungsfeld zwischen Glaubensfreiheit der Eltern und dem Kindeswohl. Beratungsfälle zeigten, dass Kindeswohlgefährdungen oft subtil sind, etwa durch rigide Rollenbilder, Zwangsrituale, Isolation, Bildungs- oder Medizinverweigerung. Die Bundesstelle initiierte interdisziplinäre Vernetzungen und entwickelte Fortbildungsformate zum Schutz von Kindern in weltanschaulich geprägten Kontexten.


Suchtprävention und weltanschauliche Angebote. Im Bereich Suchtprävention wurde die Tätigkeit der Scientology-Vorfeldorganisation „Sag Nein zu Drogen“ kritisch beleuchtet. Das Institut für Suchtprävention bewertete deren Materialien als nicht wissenschaftlich fundiert, teilweise falsch, ineffektiv und potenziell schädlich. Die Bundesstelle setzte sich für eine bundesweite Information und Sensibilisierung der zuständigen Be­hörden ein.

Auch private Sommercamps mit religiösem oder weltanschaulichem Hintergrund standen im Fokus. Kritikpunkte waren mangelnde Transparenz, missionarische Absichten und fragwürdige pädagogische Grundlagen. Die Bundesstelle sprach sich gemeinsam mit der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien für verbindliche Qualitätsstandards und regelmäßige Evaluierung aus.


Zunahme von Frauenfeindlichkeit und Gewalt. 2024 wurde eine weitere Zunahme gewaltverherrlichender und frauenfeindlicher Ideologien festgestellt. Besonders Online-Coaching-Formate propagieren zunehmend tradierte Rollenbilder bis hin zu offen misogynen Weltbildern. Exemplarisch wurden der britisch-amerikanische Influencer Andrew Tate und der österreichische Coach Markus Streinz analysiert, deren Inhalte und Methoden im Bericht ausführlich dokumentiert werden.


Extremismus und Radikalisierung. Die Bundesstelle war in mehreren Arbeitsgruppen des Bundesweiten Netzwerks Extremismusprävention und Deradikalisierung aktiv, etwa zu antidemokratischen Strömungen sowie zu Antifeminismus und Queerfeindlichkeit. Es wurde ein Grundsatzpapier erarbeitet, das antifeministische und queerfeindliche Narrative als Brückennarrativ in verschiedenen extremistischen Milieus beleuchtet.


Die psychosoziale Beratung und Begleitung von Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen bildet das Kernstück der Arbeit der Bundesstelle. Die Fallbeispiele im Bericht zeigen die Vielschichtigkeit der Problemlagen – von schädlichen Erziehungsmethoden über manipulative Gruppendynamiken bis zu Erfahrungen mit spirituell legitimiertem Missbrauch. Typische Beratungsanlässe waren:

• Finanzielle Ausbeutung und Abhängigkeit, 

• Soziale Isolation und Entfremdung von Familie und Freundeskreis, 

• Psychische und physische Gewalt, auch sexualisierte Gewalt, 

• Manipulation durch Coaches, Gurus oder Heiler, 

• Problematische Angebote im Bereich Esoterik, Lebenshilfe und Wunderheilung.

Die Beratung verfolgt das Ziel, gemeinsam mit den Betroffenen nachhaltige und bestmögliche Lösungen zu erarbeiten. Dabei wird auf eine Verbindung von sachlicher Information und individueller Unterstützung Wert gelegt.

Esoterik, Online-Coaching und alternative Heilmethoden. Ein besonders auffälliges Beispiel für die Verbindung von Esoterik, Verschwörungstheorien und Geschäftstätigkeit ist der Fall von Oliver Michael Brecht alias Geistheiler Sananda. Brecht bietet ausschließlich online Fernheilungen und diverse esoterische Produkte an, behauptet, ein göttlicher Avatar zu sein, und verknüpft seine Angebote mit endzeitlichen Narrativen und Verschwörungserzählungen. Die Angaben zu seinem geschäftlichen Erfolg sind nicht überprüfbar, deuten aber auf erhebliche Einnahmen hin.

Der Bericht beleuchtet auch das Geschäftsmodell hinter Verschwörungserzählungen. Durch den Verkauf überteuerter und teilweise gesundheitsschädlicher Produkte werden erhebliche Einnahmen erzielt. Die Bundesstelle arbeitet an der Entwicklung von Gegenstrategien und der Aufklärung über die Finanzierungsnetzwerke solcher Akteure.


Neopaganismus und Neuheidentum. Im Jahr 2024 wurden verstärkt Aktivitäten im Bereich Neopaganismus und Neuheidentum beobachtet. Diese reichen von spirituellen Selbsterfahrungsangeboten über germanisch oder slawisch inspirierte Nähkurse bis zu esoterisch-ökologischen Lebenskonzepten. In einigen Teilbereichen wurde ein zunehmender Bezug auf völkische Narrative, Geschichtsrevisionismus, Verschwörungstheorien und Antisemitismus festgestellt.


Forschungsprojekte und Kooperationen. Die Bundesstelle intensivierte 2024 ihre Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Im Rahmen des Projekts CONSPIRE werden gesellschaftliche, demokratie- und sicherheitspolitische Herausforderungen durch Verschwörungsnarrative untersucht, insbesondere mit Fokus auf die Altersgruppe 45+. Ein weiteres Projekt, DIGICULT, zielt auf die Entwicklung von Instrumenten zur digitalen Erfassung und Dokumentation gefährdender Inhalte. Mit dem Radicalisation Awareness Network (RAN) entstand das englischsprachige Handbuch „Dealing with conspiracy narratives in the close social environment“, das praxisnahe Empfehlungen für Fachkräfte im Umgang mit Verschwörungsgläubigen gibt. Ein weiteres Kapitel im „Kindeswohl Buch“ erläutert, wie Glaubenssysteme oder sektenartige Strukturen das Kindeswohl beeinträchtigen können.


Vernetzung, Weiterbildung und Prävention. Die Bundesstelle engagierte sich 2024 in Vernetzungsaktivitäten auf nationaler und internationaler Ebene. Besonders hervorzuheben ist das DACHS-Treffen, ein vierteljährlicher Online-Austausch mit Fachstellen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol. Themenschwerpunkte waren unter anderem Geschlechterrollen in sozialutopischen Gemeinschaften, Evaluation von Beratungsangeboten und psychische Belas­tungen bei Betroffenen.

Im Bereich Gewaltschutz wurde der Austausch mit Frauen- und Gewaltschutzorganisationen intensiviert, um der zunehmenden Radikalisierung und Gewaltbereitschaft entgegenzuwirken. Die Zusammenarbeit mit Familienberatungsstellen wurde ausgebaut, um die Qualität der Beratung bei weltanschaulichen Konflikten zu sichern.


Medienresonanz und öffentliche Wahrnehmung. Die Veröffentlichung des ersten Online-Monitoring-Berichts im April 2024 stieß auf großes Interesse in den Medien, bei Forschungseinrichtungen und staatlichen Stellen. Es folgten zahlreiche Berichte, Interviews und Einladungen zu Fachvorträgen. Insgesamt wurden 82 Medienanfragen bearbeitet, die sich auf ein breites Spektrum von Themen bezogen – von Esoterik und Rechtsextremismus bis zu neuen religiösen Bewegungen und Verschwörungstheorien.










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