Der Journalist Florian Klenk entwickelte mit dem Gerichtsmediziner Christian Reiter einen Podcast über das Leben und den Tod. Jetzt brachte Klenk ein Buch mit diesem Titel heraus und porträtiert darin den Arzt und Sachverständigen.
„Mein Vater hat einmal einem Flüchtling in Traiskirchen ein Fahrrad geschenkt“, erinnert sich der Falter-Journalist Dr. Florian Klenk. „Prompt ist der Bursche von der Gendarmerie aufgehalten worden und die Beamten haben ihm nicht geglaubt, dass er das Fahrrad nicht gestohlen hat.“ Ursächlich sei das wahrscheinlich nicht gewesen für den Gerechtigkeitssinn Klenks – aber doch irgendwie prägend, „denn sonst hätte ich mir das nicht bis heute gemerkt“.
Florian Klenk zählt zu den bekanntesten Journalisten Österreichs. Geworden ist er dazu durch oft kritische Berichte über Politik, Polizei und Justiz. „Der klassische Chronik-Journalismus hat mich nie wirklich angezogen“, sagt Klenk. Er wollte auch nie polizeikritischen Journalismus machen, nur der Kritik wegen. „Mir geht es um die Wahrheitssuche des Staates und wie seine Organe das machen – sprich die Polizei.“ Seine erste Geschichte über die Polizei im Falter war ein Bericht über einen Fremdenpolizisten, der eine chinesische Köchin und einen chinesischen Koch – beide österreichische Staatsbürger – mutmaßlicherweise misshandelt hatte. „Die Richterin war besonders hart und rau zu den beiden. In meinen Augen waren sie die Opfer, nicht der Polizist. Sie sind wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt und verurteilt worden.“
Gerichtsmedizinisches Museum. Vor etwa 25 Jahren besuchte Florian Klenk als Doktorand der Rechtswissenschaften das Gerichtsmedizinische Museum in der Wiener Sensengasse. Durch die Ausstellung führte der damals 41-jährige Gerichtsmediziner Univ.-Prof. Dr. Christian Reiter. Die Mischung aus Wahrheitsfindung und dem exakten wissenschaftlichen Beweis zog Klenk in ihren Bann. Ein Porträt von Christian Reiter war eine der ersten Geschichten Klenks im Falter. „Ich habe damals schon gesehen: Der Professor ist ein begnadeter Erzähler“, schildert Florian Klenk. „Er hat einen Schmäh und erzählt doch immer dem Anlass entsprechend.“
Seither kreuzten sich ihre Wege immer wieder. Seit 2020 produzieren und moderieren Klenk und Reiter einen Podcast im Doppelpack, nämlich „Klenk + Reiter“. Reiters Wissen und Reiters Fallgeschichten bezeichnet Klenk als Schatz.
„Ein Buch über Christian Reiter zu schreiben, habe ich schon seit Langem vorgehabt“, sagt Florian Klenk. „Ich wollte aber kein Buch schreiben, das eine bloße Aneinanderreihung von Fällen enthält – wie es so viele davon gibt in den Buchhandlungen.“ Christian Reiter sei als Mensch ein hochinteressanter Zeitgenosse und sein Fach, die Gerichtsmedizin, sei als Wissenschaft für Polizei und Justiz mindestens genauso faszinierend wie Reiter selbst.
Somit schrieb Klenk in seinem neuen Buch „Über Leben und Tod“ entlang der Lebensgeschichte Reiters über dessen Kenntnisse in der Gerichtsmedizin sowie über dessen Wissen über Wien, die Wiener, die Habsburger, die Mörder, deren Opfer, die Polizei und die Justiz. Im Kern handelt es sich um die Geschichten, die Florian Klenk mit Christian Reiter in deren Podcast besprochen haben.
Unzulänglichkeiten. Zur Sprache kommen auch die Unzulänglichkeiten in der Dokumentation von Verletzungsspuren an Opfern. „Jeder Bausachverständige weiß, dass er ein Handyfoto nicht einfach in ein PDF packen darf und es als Bildbeweis werten kann“, sagt Klenk. Um ein Hämatom beurteilen zu können, bräuchte ein Gerichtsmediziner eine farbechte Abbildung. Wenn ein Foto mit einem veralteten Handy im Neonröhrenlicht gemacht wird, ist das Ergebnis weit entfernt von Farbechtheit. Verletzungen unter der Haut verändern sich im Organismus sehr rasch. Nur die richtige Verortung im Farbspektrum erlaubt einem Sachverständigen zum Beispiel eine Einschätzung, wie alt ein blauer Fleck ist oder wie er entstanden sein könnte.
In Krankenhäusern ist die Dokumentation von Verletzungen nicht auf die Wahrheitsfindung ausgerichtet, sondern auf die Heilung. In einem Fall zum Beispiel habe ein Arzt eine drei Zentimeter breite, tiefe Stichwunde als „zehn Zentimeter lange Schnittverletzung“ beschrieben. „Das gibt einem Beschuldigten die Möglichkeit, sich damit zu rechtfertigen, dass er sagt, er hat sein Opfer im Gerangel verletzt – und nicht, dass er es mit einem glatten Stich absichtlich verletzen oder gar töten hat wollen.“
„Übrig bleiben die schwächsten unter den Opfern“, sagt Florian Klenk. „Frauen, weil sie den Täter schützen und mit ihm weiter zusammenleben wollen, Kinder, weil sie sich selber die Schuld geben, und alte Menschen, weil sie niemanden haben, der für sie spricht und für sie alles sowieso beschwerlich ist.“
Klenk erzählt von einem Fall, in dem ein Insasse eines Altersheims in Niederösterreich aus einem Fenster seines Zimmers gestürzt sei. Der Fall sei als Selbsttötung klassifiziert worden, ohne die Spurenlage am Fenster zu untersuchen. „Bei einem absichtlichen Fenstersturz gibt es mit höchster Wahrscheinlichkeit einen Schuhabdruck, weil das Opfer auf das Fensterbrett steigt, bevor es sich in die Tiefe stürzt“, erklärt Klenk. Im Fall von Niederösterreich passte das Verletzungsmuster am Kopf nicht zu jenem, wie sie normalerweise entsteht, wenn jemand mit dem Kopf auf dem Beton aufschlage. Letztlich habe man geflissentlich eine Blutlache im Zimmer des Toten übergangen. Doch nicht erst einmal habe Prof. Reiter von Beamten gehört: „Machen’S doch kein Lamperl wild“, was so viel bedeutet, wie die Rehe scheu machen oder aus einer Mücke einen Elefanten.
Lage der Gerichtsmedizin. In den vergangenen Jahren hat sich die gerichtsmedizinische Situation in Wien nicht gerade verbessert: Mitte der 2000er-Jahre wurden die „sanitätspolizeilichen Untersuchungen“ von Leichen abgeschafft. Viele Morde waren dadurch aufgedeckt worden. Wien war seit der Ära Maria Theresia berühmt dafür. Anfang der 2000er-Jahre wurde die Gerichtsmedizin als Pflichtfach aus der Medizinausbildung herausgenommen. Ärzte erfahren dadurch nicht mehr, wie Verletzungen typischerweise aussehen, wenn sie von einer Straftat herrühren. Im Alltag haben sie ohnehin kein Interesse daran. Ihr Ziel ist es, Wunden zu verarzten, so dass sie heilen.
Unter den Gründen für diese Entwicklungen sticht einer hervor: Universitäten müssen heute auch wirtschaftlich geführt werden. Geforscht wird in Fachgebieten, in denen eine Universität auf Forschungsgelder hoffen kann oder die sonst einträglich sind. Die Forschung an Toten zählt nur geringfügig zu diesen Fächern. Für Florian Klenk ist diese Denkweise kurzsichtig: „Die Wissenschaft muss auch am Toten forschen, um den Lebenden präventiv etwas zu bringen.“ Der menschliche Mangel an Weitsicht hemmt die Prävention wie so oft auch auf anderen Gebieten, wie zum Beispiel der Gesundheitsvorsorge oder auch der Kriminalprävention.
Menschenrechte. Geprägt hat Klenk nicht nur die Geschichte mit dem Flüchtling auf dem Fahrrad seines Vaters. „Es war vor allem die Beschäftigung mit den Menschenrechten“, betont der Journalist. Er verbrachte ein Erasmus-Auslandssemester in den Niederlanden. In Wien unterstützte er Flüchtlinge bei den Helping Hands. „Dort habe ich die Polizei von zwei Seiten kennengelernt“, erinnert er sich. „Einerseits als hartherzige Vollzieher der Fremdengesetze, andererseits – nach Dienstschluss – als Unterstützer der Flüchtlinge, wenn sie Ansuchen und Ähnliches gestellt haben.“ Die Polizisten seien großteils von der Vereinnahmung ihres Berufsstands durch Politiker angewidert gewesen.
Auch sonst, wenn Klenk über Missstände berichtete, sei er immer wieder mit Polizistinnen und Polizisten konfrontiert gewesen, die interessiert gewesen seien „am Reinhalten des eigenen Corps“. Als Mauerer habe er lediglich Personalvertreter erlebt. „Ein Staat funktioniert nur, wenn sich seine Organe gesetzeskonform verhalten“, sagt Florian Klenk. „Das ist neunzig Prozent der Polizisten völlig klar und sie verhalten sich entsprechend.“
Wenn der Rechtsstaat kippt. Wie schnell ein Rechtsstaat kippt, wenn der Staat nicht mehr in dieser Weise funktioniert, habe eine Vielzahl von Beispielen gezeigt.
In seiner Zeit bei der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit beschäftigte sich Klenk unter anderem mit Murat Kurnaz. Der Türke war in Bremen zur Welt gekommen und aufgewachsen. Im Nachgang zu den Ermittlungen nach dem „9/11“, den Angriffen mit zivilen Flugzeugen auf die Twin-Towers in New York und das Pentagon geriet er 2002 in den terroristischen Verdachtskreis. Ohne Anklage und ohne erwiesene Schuld saß er fünf Jahre seines Lebens im US-amerikanischen Terroristengefängnis Guantanamo.
„Was man am Juridicum in Wien über einen Rechtsstaat und eine Demokratie lernt, kann von einem Tag auf den anderen vorbei sein“, ist seine Schlussfolgerung aus solchen Fällen.
Pressefreiheit und Unschuldsvermutung. In seiner Dissertation 2001 beschäftigte sich Florian Klenk mit dem Spannungsfeld zwischen Pressefreiheit und Unschuldsvermutung. „Es beginnt damit, dass die Polizei zum Beispiel zu einer Pressekonferenz einberuft“, sagt der Journalist. „Sie verlautbart zum Beispiel: Wir haben einen Beschuldigten ausgeforscht und festgenommen. Dann sagt sie, der Täter hat ein Geständnis abgelegt.“ Damit verlege die Polizei einen Teil des Verfahrens nicht direkt in den Gerichtssaal, sondern in die Öffentlichkeit. „Natürlich macht sie das aus PR- oder Marketing-Zwecken. Aber muss das sein? Und schadet das mitunter dem Verfahren?“ Klenk ist überzeugt, in Sexualdeliktsfällen wie Kampusch und Fritzl schadet es eher. Eine gewisse Öffentlichkeit aber brauche staatliches Handeln immer. „Es ist nur die Frage, ab wann es schädlich wird – zum Beispiel für die Opfer.“
Die Medienarbeit der Polizei habe sich diesbezüglich jedoch klar verbessert in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren. „Mit dem Terroristen vom 2. November 2020 in Wien wäre die Polizei früher ganz anders umgegangen – aber auch die Medien“, betont Klenk.
Bekanntheit in der Polizei erlangte Klenk erst so richtig durch den Podcast mit Christian Reiter. „Wenn ich durch die Stadt gehe und Polizisten begegne, werde ich fast jedes Mal auf den Podcast angesprochen“, schildert er. Bisher sind in drei Staffeln 40 Folgen erschienen. Die vierte Staffel beginnt im Oktober 2024. Das Buch „Über Leben und Tod – in der Gerichtsmedizin“ von Florian Klenk ist im Paul Zsolnay Verlag erschienen.
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