Grenzverletzungen im Netz
- Rosemarie Pexa
- 24. Aug.
- 6 Min. Lesezeit
Eine Studie von Saferinternet.at zeigt: Jugendliche sind Opfer – und Täter.

Viele Kinder und Jugendliche sehen sexuelle Belästigung online als „normal“ an. Zu diesem überraschenden Schluss kommt eine im Auftrag von Saferinternet.at erstellte Studie, die anlässlich des Safer Internet Day am 11. Februar 2025 präsentiert wurde. Die jungen Menschen sind nicht nur Opfer sexueller Belästigung, sondern auch Täter – etwa, wenn sie Nacktfotos anderer verschicken. Dass sie damit eine Straftat begehen, ist ihnen meist nicht bewusst.
Im November 2024 führte jugendkultur.at – Institut für Jugendkulturforschung und Kulturvermittlung eine Online-Befragung von 405 11- bis 17-Jährigen, repräsentativ nach Alter und Geschlecht ausgewählt, durch. Zusätzlich fanden vier vertiefende Fokusgruppengespräche mit insgesamt 70 Teilnehmern zwischen 15 und 19 Jahren an Schulen sowie Experteninterviews statt.
Die Ergebnisse wurden in der Studie „Sexuelle Belästigung online“ zusammengefasst und vom Österreichischen Institut für angewandte Telekommunikation (ÖIAT), den Internet Service Providers Austria (ISPA) sowie der Helpline Rat auf Draht vorgestellt.
Zählt man alle Formen sexueller Belästigung – von anzüglichen Bemerkungen über die Aufforderung, Nacktbilder zu schicken, bis zu ungefragt zugesendeten Dickpics – zusammen, gaben über 38 Prozent der Befragten an, selbst bereits davon betroffen gewesen zu sein. Bei Mädchen und bei Jugendlichen der Altersgruppe von 15 bis 17 Jahren lag der Anteil mit jeweils über 50 Prozent deutlich höher. Jeder zehnte Befragte erklärte, online oft oder sehr oft sexuell belästigt worden zu sein. Mehr als die Hälfte nahm an, dass bereits Kinder im Volksschulalter von sexueller Belästigung online betroffen sind.
Unangenehme Fragen. „Hat dir online schon mal jemand intime oder sexuelle Fragen gestellt, die dir unangenehm waren?“, wollten die Studienautoren von den Kindern und Jugendlichen wissen. „Es geht dabei nur um die unangenehmen Fragen, die anderen sind Teil der gelebten Sexualität“, präzisierte die pädagogische Leiterin von Saferinternet.at DI Barbara Buchegger, M.Ed., vom ÖIAT. Rund 28 Prozent bejahten diese Frage; auch hier lagen Mädchen und 15- bis 17-Jährige deutlich über dem Durchschnitt.
Die häufigste Reaktion auf unangenehme intime oder sexuelle Fragen ist laut Studie, den Fragenden zu ignorieren (65 Prozent) bzw. zu blockieren (57 Prozent). „Damit muss man einfach leben. Am besten, man ignoriert das“, meinte eine 16-Jährige in einer der Fokusgruppen. ISPA-Generalsekretär Mag. Stefan Ebenberger sieht diese Vorgangsweise durchaus positiv: „Ignorieren und blockieren sind entscheidende Schritte, welche die Kinder und Jugendlichen zum Glück setzen.“
Den Belästiger der jeweiligen Plattform zu melden, war ein weiterer Schritt, den nur 39 Prozent der Befragten unternommen hatten. Ein wesentlicher Grund dafür wurde in den Fokusgruppen deutlich. „Wozu melden? Es passiert dann eh nichts. Es bringt also nichts“, zitierte Ebenberger einen 15-Jährigen. Knapp 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen meinten, Belästigungen oft bzw. sehr oft, über 47 Prozent manchmal oder selten gemeldet zu haben.
Nur zwei Prozent der Befragten hatten die Online-Belästiger bei der Polizei angezeigt. In diesen Fällen wäre es wichtig, den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass die Anzeige – selbst wenn sie im Endeffekt nicht zu einer Verurteilung führt – sinnvoll ist. „Als Polizist sollte man sensibel auf das Kind bzw. den Jugendlichen eingehen“, betonte Ebenberger.
Weitere Reaktionen auf unangenehme intime oder sexuelle Fragen bestehen laut Studie darin, den Fragen auszuweichen, die Antwort zu verweigern oder den gesamten Chat zu löschen. 19 Prozent gaben an, auf diese Fragen geantwortet zu haben. „Männliche und jüngere Befragte gehen eher auf die Fragen ein. Sie finden es cool, fühlen sich wahrgenommen und wertgeschätzt“, beschrieb Buchegger die zwiespältige Haltung gegenüber der eigentlich unerwünschten sexuellen Annäherung.
Tatort TikTok. „Sexuelle Anspielungen, Nachrichten oder Kommentare zu bekommen, ist in sozialen Netzwerken oder Onlinespielen ‚normal‘.“ Dieser Aussage stimmte knapp ein Drittel der Befragten sehr bzw. eher zu, unter den 15- bis 17-Jährigen sogar 41 Prozent. Sexuelle Belästigung im Internet wird als „Teil der digitalen Lebenswelt“ wahrgenommen und damit auch bis zu einem gewissen Grad akzeptiert.
Mit 72 Prozent am häufigsten findet sexuelle Belästigung online in vorwiegend von jungen Menschen genutzten sozialen Netzwerken wie TikTok, Snapchat oder Instagram statt. Mit deutlichem Abstand folgen Messengerdienste wie WhatsApp, Signal oder Facebook Messenger, Chatrooms wie OmeTV oder Discord sowie Onlinespiele.
Nacktfotos. Das Versenden von Nacktaufnahmen ist vor allem bei älteren Jugendlichen ein Thema. Über 42 Prozent aller Befragten sagten, dass Nacktfotos oder -videos von jemandem aus ihrem Umfeld veröffentlicht oder weitergeschickt worden waren, bei den 15- bis 17-Jährigen knapp die Hälfte. Fünf Prozent waren auch schon selbst betroffen. „Es ist vielen Kindern und Jugendlichen nicht bewusst, dass sie sich strafbar machen, wenn sie Nacktfotos verbreiten“, stellte Buchegger fest und bezog sich dabei auf § 207a StGB Bildliches sexualbezogenes Kindesmissbrauchsmaterial und bildliche sexualbezogene Darstellungen minderjähriger Personen.
Die Anzahl der Befragten, die laut Studie Nacktaufnahmen von sich selbst verschickt hatten, war mit weniger als 14 Prozent vergleichsweise gering. 44 Prozent gaben an, die Aufnahmen freiwillig versendet zu haben. Der Anteil jener, bei denen es nicht freiwillig war, lag bei insgesamt 16 Prozent und unter den jüngeren Befragten bei 31 Prozent. Interessant ist insbesondere der mit 34 Prozent – bzw. bei den 11- bis 14-Jährigen mit 44 Prozent – hohe Anteil jener, die sich über die Freiwilligkeit „nicht sicher“ waren. „Viele Jugendliche sind unsicher, wenn es um die eigenen Grenzen geht oder darum, ‚nein‘ zu sagen“, erklärte Birgit Satke, Leiterin von Rat auf Draht.
Ob freiwillig oder nicht – wer Nacktfotos oder -videos von sich verschickt, ist selbst schuld, wenn diese dann weiterverbreitet werden. Diese Meinung teilte mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, bei den männlichen Befragten waren es sogar 59 Prozent. Das zeige die Notwendigkeit von Aufklärung und Prävention, betonte Satke: „Schuld ist nie das Opfer. Es darf nicht zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommen.“
Mitunter erfuhren Betroffene erst durch die Verbreitung der Bilder bzw. Videos, dass Nacktaufnahmen von ihnen angefertigt worden waren. Sechs Prozent gaben an, schon einmal heimlich in einer intimen Situation gefilmt worden zu sein, z. B. beim Sex, auf der Toilette oder beim Umziehen. Dieses Problem sprechen Jugendliche laut Satke auch öfter bei Beratungen durch Rat auf Draht an. Die Betroffenen empfinden häufig Schamgefühle und werden in ihrem sozialen Umfeld gemobbt. Manchmal besteht der einzige Ausweg darin, die Schule zu wechseln.
Da es den jungen Menschen äußerst peinlich ist, wenn Nacktaufnahmen von ihnen auftauchen, kann man sie leicht mit deren Verbreitung erpressen. Auch das ist häufig Thema, wenn sich Jugendliche an Rat auf Draht wenden, so Satke. Das Wissen, welche Handlungsoptionen sie haben, fehlt meist. Männliche Jugendliche werden häufiger Opfer von Sextortion als weibliche, das Alter der Betroffenen sinkt seit einigen Jahren. Ein neuer Trend ist Erpressung, bei der mit KI veränderte Bilder verwendet werden. So wird etwa der Kopf aus einem „harmlosen“ Foto auf einen nackten Körper gesetzt.
Prävention. So „normal“, wie sie behaupten, dürfte sexuelle Belästigung online für junge Menschen doch nicht sein. Das zeigt der hohe Anteil von 53 Prozent der Befragten, die gern mehr Informationen darüber hätten, wie sie sich davor schützen können. Vor allem weibliche Jugendliche, die sexuelle Belästigung stärker wahrnehmen als männliche, wünschen sich eine bessere Aufklärung zu dem Thema. Diese Aufgabe sollte für 78 Prozent aller Befragten von der Schule übernommen werden, für 64 Prozent von den Eltern. Mit deutlichem Abstand folgen Internet, Polizei, Influencer, Freunde oder Gleichaltrige und Organisationen für Jugendliche wie Jugendzentren oder Beratungsstellen.
Was Schulen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen tun können, fasste Ebenberger zusammen. Es sei sinnvoll, schon in der Volksschule mit der Information über die Gefahren im Internet zu beginnen. An den Schulen sollte es Ansprechpersonen geben, die den Schülern auch bekannt sind, damit sie im Ernstfall wissen, an wen sie sich wenden können. Weitere Empfehlungen sind, gemeinsam Konfliktlösungsstrategien zu erarbeiten und durch Normverdeutlichung zu verhindern, dass junge Menschen selbst zu Tätern werden.
Eltern riet Ebenberger, frühzeitig mit kindgerechter sexueller Aufklärung zu beginnen. Wenn man Kinder ernst nimmt und wertschätzend behandelt, sind sie nicht darauf angewiesen, sich in sozialen Netzwerken Anerkennung zu suchen und dabei z. B. Opfer von Cybergrooming zu werden. Eltern sollten die Onlinefreundschaften ihres Nachwuchses akzeptieren und Vorwürfe vermeiden, wenn ihr Kind einmal unvernünftig gehandelt hat. Damit es gar nicht erst soweit kommt, muss auch im familiären Umfeld ein „Nein“ des Kindes akzeptiert und geübt werden, wie man in unangenehmen Situationen seine eigenen Grenzen wahrt.
Auch der rechtliche Rahmen trägt laut Ebenberger dazu bei, Kinder und Jugendliche zu schützen. Dazu zählt der Digital Services Act der EU, der Plattformen dazu verpflichtet, gegen sexuelle Belästigung online vorzugehen. Ein weiterer Fortschritt ist die Änderung von § 218 StGB, die das unaufgeforderte Versenden von Penisbildern unter Strafe stellt. Die Novelle soll mit 1. September 2025 in Kraft treten.
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