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Eine Fallanalyse

  • Alfred Ellinger
  • 24. Aug.
  • 7 Min. Lesezeit

Allein innerhalb eines Jahres kam es zu drei Fällen von Kindestötung durch die eigene Mutter. Schwer zu verstehen!


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Als Untersuchungsrichter am Landesgericht für Strafsachen Wien (damals gab es den Untersuchungsrichter noch) war ich für einen derartigen Fall zuständig. Ich habe diesen Fall sehr genau dokumentiert, einfach weil er mir so einzigartig schien, was er aber durchaus nicht war.

Ich hatte die Verdächtige in Untersuchungshaft genommen. Frau S., Jahrgang 1946, war die älteste von drei Schwes­tern, die beiden jüngeren Schwestern wirkten unauffällig, eher kühl. Die Mutter litt an Diabetes, war stark übergewichtig, trat im Gleichklang mit der offensichtlich klügeren Tochter, der Verdächtigen, sehr gefühlsbetont in Erscheinung. Sie schien ihrer Tochter gegenüber völlig distanzlos zu sein. Sie hatte sie auch früher schon bei Verfehlungen vor dem Vater gedeckt. Der Vater erschien seiner Familie gegenüber sehr distanziert, ja, abgegrenzt. Der Verdächtigen gegenüber, die ihn offensichtlich verachtete, zeigte er sich gleichgültig, ablehnend.


Im Zuge der Ermittlungen und auch später in der Hauptverhandlung machten er und die Schwestern der Verdächtigen vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Die Darstellung der Mutter, die ganz offensichtlich bestrebt war, ihre Tochter zu schützen, wirkte über weite Strecken unkritisch und unglaubwürdig.

Während der frühen Kindheit der Verdächtigen im 9. Wiener Gemeindebezirk waren beide Eltern durch den Aufbau eines bescheidenen Gewerbebetriebes beruflich sehr engagiert und hatten finanzielle Probleme zu bestehen. Die Verdächtige war schon sehr früh verhaltensauffällig. Sie wurde mehrfach von der Polizei aufgegriffen und bei ihren Eltern abgeliefert. In der Schule bewältigte sie den Lehrstoff problemlos, verhielt sich aber wenig kameradschaftlich, beging kleinere Diebstähle und stieß häufig auf Ablehnung.

Die Anforderungen im Gymnasium erfüllte sie mit durchschnittlichem Erfolg. Die Matura schaffte sie problemlos. Sie ließ sich weder von den Eltern noch von Lehrern Vorschriften machen, brachte schon sehr früh Freunde mit nach Hause und wirkte in ihrem Verhalten ziemlich hemmungslos. Sie konsumierte fallweise Cannabis, ihr Alkoholkonsum drohte zeitweise außer Kontrolle zu geraten. Sie korrigierte ihr Verhalten aber immer noch gerade rechtzeitig.


Mit sechzehn Jahren wurde sie schwanger und ihre Mutter bestimmte, dass eine Abtreibung durchgeführt werde, wovon der Vater erst nachträglich erfuhr. Auf Ablehnung und Versagungssituationen hatte sie wiederholt mit Selbstmordversuchen reagiert. Ansons­ten reagierte sie auf Frustrationen mit übermäßiger Nahrungsaufnahme, was ähnlich wie bei ihrer Mutter zu starkem Übergewicht führte.

Dieses Verhaltensmuster änderte sich auch nicht während ihrer Ausbildung zur Krankenschwes­ter, zu der sie sich nach längerem Zögern entschlossen hatte. Während sie sich ihr dabei zum Ausdruck kommendes soziales Engagement und Pflichtbewusstsein zugute hielt, stieß sie bei Kolleginnen und Kollegen aber auch bei Vorgesetzten durchwegs auf Ablehnung. Ihr gleichzeitig oft extrem unkonventionelles und unsolidarisches Verhalten, ihre disziplinären Schwierigkeiten und die durchwegs hemmungslose Heftigkeit ihrer gefühlsmäßigen Reaktionen waren wohl dafür ausschlaggebend.


Sie bestand die Abschlussprüfung, suchte sich aber wegen der erwähnten Schwierigkeiten eine andere, bescheidenere Arbeitsstelle in Nieder­österreich, wo sie ihre intellektuelle Beweglichkeit und ihr Engagement besser zur Geltung bringen konnte.

Rasch und unvermittelt hatte sie auf unkonventionelle Weise geheiratet, ebenso verlief dann die Scheidung. Bei einer Faschingsveranstaltung lernte sie ihren zweiten Mann kennen, der ihr als Justizbediensteter zunächst einmal bei ihren Scheidungsangelegenheiten behilflich war. Sie war ihm dafür bei der Bewältigung psychischer Probleme behilflich.

Auf nunmehr einer anderen Ebene wiederholte sie das, was ihr mit dem Wechsel des Arbeitsplatzes geglückt war. Dabei machte sie aber die Erfahrung, dass ihrem Engagement langfristig der Erfolg versagt blieb. Da es ihr nicht gelang, ihrem Mann großstädtische Maßstäbe zu vermitteln, ihn von seinen vermeintlichen oder auch tatsächlichen inneren Einschränkungen und Blockaden zu befreien, war die Geschichte der partnerschaftlichen Beziehung schon vor der recht impulsiv erfolgten Eheschließung spannungsgeladen. Wobei sie eindeutig das Feld beherrschte, er allen Diskussionen und Problemen aus dem Weg ging, an seinem beruflichen Fortkommen arbeitete, sich intensiv für Fußball interessierte und durchaus exzessiv zu trinken begann.


Die erste Schwangerschaft trug nicht dazu bei, die ständigen Ehestreitigkeiten zu beenden und zu einem harmonischen Zusammenleben zu finden. Im Gegenteil, die Wesensverschiedenheit der Eheleute führte zu weiteren Entfremdungen. Das gemeinsame Kind wuchs auf diese Weise in ein ungesundes Spannungsfeld hinein, nahm an den heftigen Auseinandersetzungen der Eheleute teil und wurde von der Verdächtigen zum Objekt einer bedingungslosen Zuwendung gemacht.

Den Vater und alle anderen Personen hielt sie für unfähig das Kind zu erziehen. Es wurde daher von ihr von allen Einflüssen abgeschirmt. Dadurch zerbrach letztlich das ohnehin labile Verhältnis zu den Schwiegereltern. Intakt blieb lediglich die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, die sich nicht hatte entmutigen lassen, die aber selbst, nach Schilderungen der Verdächtigen, mehr oder weniger hoffnungslos in eigene Probleme verstrickt war.

Die Verdächtige kündigte ihre Arbeitsstelle und erlebte eine psychische Einengung, die für sie umso enttäuschender war, da sie trotz eines Übermaßes an Kontaktbemühungen außerstande war, stabile mitmenschliche Beziehungen und Freundschaften zu haben und ihren vielfältigen Interessen gemäß zu leben. Die Schuld hierfür wies sie ihrem Mann zu und glaubte nicht mehr daran, dass sie ihn noch nach ihren Vorstellungen ändern könnte. Pläne sich zu trennen, zerliefen im Alltag mit seinen Problemen unmittelbarer wirtschaftlicher Art.

Während dieser Entwicklung erlebte sie die zweite Schwangerschaft. Die Hoffnung auf eine Änderung der Situation, die sie immer noch hegte, war jedoch völlig irrational. Es kam zu keinem grundlegenden Wandel in ihrem Leben. Im Gegenteil, es wurde alles noch viel schwieriger und nervenaufreibender, ihre Einengung noch viel größer. Die Bedingungslosigkeit ihrer Zuwendung wurde nun auf ihre beiden Kinder verteilt.


Die Ehescheidung war, trotz gemeinsamer, von ihr veranlasster Psychotherapie, bereits beschlossene Sache. Frau S. hatte schließlich, trotz aller Schwierigkeiten, wieder eine Anstellung gefunden. Sie arbeitete während der Nacht in einem Pflegeheim und konnte sich tagsüber ihren Kindern widmen, was aber eine Reihe neuer Probleme schaffte.

Der Ehemann hatte auf ihr Drängen hin die Wohnung verlassen und in einem benachbarten Ort eine Unterkunft gefunden. Seine Büroarbeiten verrichtete er weiterhin in einem abgetrennten Raum der ehelichen Wohnung. Bei diesen Gelegenheiten konnte er seine Kinder sehen. Schließlich rang er sich zu einer Entziehungskur durch.

Frau S. erblickte inzwischen in den situativen Schwierigkeiten, die sie umgaben, eine hohe Mauer, wie sie sich ausdrückte und entwickelte eine schwere Depression. Alle Routinetätigkeiten erledigte sie weiterhin penibel. Ganz im Gegensatz zu ihrem sonstigen Wesen unterließ sie aber neue Initiativen. Es flossen häufig Tränen und ihre Depres­sion entwickelte sich zu einer Gefühlskälte. Sie hatte nun häufig Angstzustände und schlief schlecht. Die Idee, dem allen ein Ende zu setzen, teilte sie niemandem mit. Diese Idee hatte für sie auch gar nichts Bedrückendes. Sie erschien ihr vielmehr als Befreiung. Trotzdem hatte sie einige Tage hin und her überlegt. Dann brachte sie von ihrer Arbeitsstelle nach und nach diejenige Menge von Schlaftabletten mit nach Hause, die ihr für die Ausführung ihres Vorhabens erforderlich erschien.


Sie überlegte mit Bedacht den geeigneten Termin, das Ende einer Serie von Nachtdiensten. Etwas anderes als die Mitnahme ihrer Kinder in den Tod, war für sie von Anfang an nicht in Frage gekommen. Aus von ihr nicht erklärbaren Gründen hatte sie die Ausführung der Tat noch um einen Tag verschoben. Tagsüber versetzte sie sich dann in eine Art von Beschäftigungstaumel, reinigte gründlich die Wohnung, traf schriftlich letzte Anordnungen. Als alles fertig war, malte sie auf dem Kalender ein Kreuz hinter dem 24. Dezember und befand sich in der Folge in einem Zustand innerer Leichtigkeit und Entspanntheit, wie sie ihn, ihren Darstellungen zufolge, seit langem nicht gekannt hatte.

Sie bereitete noch das Abendessen, spielte mit den Kindern und brachte diese dann zu Bett. Sie setzte sich dann an den Küchentisch und trank zwei Achtelgläser Wein. Dann ging sie in das Kinderzimmer und erdrosselte ihre beiden Kinder.


Hinsichtlich des weiteren Verlaufs des Geschehens fehlte dann eine einheitliche Schilderung. Frau S. machte zunehmend Gedächtnislücken geltend. Sie erinnerte sich daran, in einem Wasserglas eine große Menge Schlaftabletten aufgelöst und die Lösung getrunken zu haben.

Frau S. und die Leichen ihrer beiden Kinder waren am nächsten Tag zu Mittag von ihrem Vater in der verschlossenen Wohnung vorgefunden worden. Frau S. war bewusstlos. Der Vater von Frau S. war von ihrem Ehemann zur Wohnung gerufen worden, nachdem es diesem vormittags nicht gelungen war, mit seiner Frau Kontakt aufzunehmen. Er hatte dann die Wohnung aufgebrochen.

Psychologisch beeindruckend war, wie die Wiederholung derselben Verhaltensauffälligkeiten die mitmenschliche Beziehungsaufnahme von Frau S. seit der frühen Kindheit gestört und nachhaltig in die Vereinzelung getrieben hat. Die Verdächtige hatte dies allerdings nie wahrhaben wollen und auf das, was sich ihr immer schonungsloser offenbarte, mit umso heftigeren Kontaktbemühungen aller Art reagiert. Dabei spürte sie selbst ihre vielfältigen Bemühungen in dem Maße „im Sand verlaufen“, indem sie jeden, der ihr in die Nähe kam, zu vereinnahmen suchte. Dies erklärt den Charakter ihres Lebenslaufes als eine Folge von Bruchstücken und als Ausdruck der Unfähigkeit, mit ihrer weit überdurchschnittlichen Intelligenz (IQ 130) mehr anzufangen, als nur die je­weilige Situation objektiv richtig zu beurteilen.

Von ihren jüngeren Schwestern unterschied sie sich darin, dass ihr Bedeutungserleben ihre integrative Funktion nicht erfüllte. Die Verkümmerung dieser Funktion, die normalerweise die Person auf der Basis der Gleichberechtigung in die Gemeinschaft anderer Personen eingliedert, ist der letztlich zentrale psychopathologische Befund. So, dass sie gerade wegen ihrer lauten Gefühlshaftigkeit und starken Impulsivität im Grunde     gefühlsarm, gemütlos, fast abstoßend   wirkte.


Der Gutachter stellte dazu fest: Gefühlsarmut und Gemütlosigkeit sind psychopathologische Begriffe, die in der Tat nicht auf die Abwesenheit des Fühlens schlechthin, sondern darauf zielen, dass die sogar im Übermaß vorhandene Affektivität und Emotionalität ihrer psychologischen und sozialen Bestimmung der Verfestigung und Harmonisierung nicht gerecht zu werden vermögen. Diese lnsuffizienz der Bedeutungsentnahme weist den Gefühllosen und gemütsarmen Psychopathen in eine Position innerer Labilität und äußerer „Gesellschaftslosigkeit“ ein, die ihn allen zufälligen Strömungen, in die er gerät, ausliefert. Auf den Mangel an tragfähigen Bindungen, die das Wesen seiner Asozialität ausmachen, reagiert er überschießend und so bedingungslos wie dies im vorliegenden Fall beispielsweise an der aberratischen Form der Kindererziehung zu bemerken war.

Und zusammenfassend führte der Sachverständige aus: „Was Frau S. auf differenzierte Weise erlebte, erlebte sie im Gegenständlichen richtig, sie entnahm daraus aber aufgrund ihres fundamental egozentrischen Wesens nicht die Bedeutung, die ihr den Weg zum Gleichgewicht der wirklichen Gemeinschaft mit anderen hätte zeigen können. Diesen Kranken ist von Anfang an ausschließlich die Individualnorm der eigenen Affektivität bekannt. Sie sind außerstande andere zu verstehen und sehen überdies keine Veranlassung auf die eigene Uneinheitlichkeit in ihrem Wesen zu reagieren. Dies ist die Antwort auf Desintegration, wenn eines Tages der persönliche Standpunkt, der bis dahin in der Einheit des Bewusstsein gegeben war, verloren geht und die innere Labilität, die an dessen Stelle getreten ist, etwas vollkommen und bis dahin unvorstellbar Neues darstellt, nämlich der Ausbruch einer geistigen Krankheit.“

„Psychopathen“ werden nicht von einem Tag auf den anderen krank. Sie sind an ihren Zustand gewöhnt und daran, dass die anderen ihre innere Unausgeglichenheit zu kompensieren und dafür zu sorgen haben, dass alles nach ihren Vorstellungen läuft. Sie hören nicht auf, darauf zu warten, dass sich die Umwelt endlich auf die Evidenz dieser Grundgegebenheiten einstelle. Kompensationsbereitschaft und Reaktionen der Bezugspersonen bestimmen daher in ganz hohem Maße, in welchem äußeren Rahmen ein solches Leben verläuft. Es sollte keinen Zweifel unterliegen, dass diese Form der Persönlichkeitsstörung, die ebenso fundamental angreift, wie die, bei welcher nicht das Gemüt, sondern die Intelligenz verkümmert, auch forensisch nicht weniger schwer wiegt als der Schwachsinn.


Der Sachverständige hat wohl einiges erklärt. Ich konnte den Tod der Kinder dennoch nicht verstehen! Frau S. wurde damals nach einer beklemmenden Hauptverhandlung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Einige Jahre später erfuhr ich, dass sie entlassen wurde und mit ihrer Mutter gemeinsam lebt. Dass derartige Kindestötungen gehäuft vorkommen und nicht verhindert werden können, macht traurig und erfordert offensichtlich viel mehr Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen in der Familie, dem Bekanntenkreis und der Nachbarschaft.

Artur Schnitzler hatte wohl Recht, „die Seele ist ein weites Land“.










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