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„Demokratie braucht Beziehungsarbeit“

  • Gerhard Brenner
  • 24. Aug.
  • 10 Min. Lesezeit

Rechtsstaat und Demokratie seien siamesische Zwillinge, sagt Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Straflandesgerichts. Demokratische Institutionen müssten verstärkt am Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger arbeiten.


Friedrich Forsthuber: „Wir müssen den Menschen in unserem Land bewusst machen, wie wertvoll die Demokratie ist und was jeder beitragen muss, damit sie funktioniert.
Friedrich Forsthuber: „Wir müssen den Menschen in unserem Land bewusst machen, wie wertvoll die Demokratie ist und was jeder beitragen muss, damit sie funktioniert.

Demokratie setzt Vertrauen voraus – in Politik, Justiz, Polizei und demokratische Einrichtungen allgemein“, sagt Mag. Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts für Strafsachen in Wien. „Das Vertrauen zu erhalten, ist essenziell für staatliche Institutionen, genauso wie für die Medien. Wenn dieses Vertrauen verloren geht, kann es mit der Demokratie jeden Tag vorbei sein.“

Als Engelbert Dollfuß im März 1933 das Parlament und damit die Demokratie ausschaltete, habe nicht nur Bundespräsident Wilhelm Miklas versagt, sondern auch der Verfassungsgerichtshof, die Justiz allgemein, die Opposition „und vor allem auch die Bevölkerung“. „Die Bürgerinnen und Bürger haben längst das Vertrauen in den Staat verloren gehabt“, erklärt Forsthuber. Polizei und Justiz hätten es spätestens 1927 nach dem Schattendorf-Prozess und dem Justizpalastbrand verspielt. Im Jänner 1927 hatten in Schattendorf (Burgenland) Frontkämpfer-Anhänger auf die Straße geschossen; ein Sechsjähriger und ein Kriegsinvalide starben. Im Juli 1927 wurden sie vom Anklagevorwurf der Gemeingefährdung mit Todesfolge vom Geschworenengericht freigesprochen; das löste  tags darauf Demons­trationen in Wien aus, wobei der Justizpalast in Brand gesteckt wurde und die Polizei Schießbefehl erhielt. Insgesamt wurden 89 Menschen getötet.

„Die Bundesverfassung war 1933 dieselbe wie heute“, betont Forsthuber. „Es gibt zwar Novellen, die ein Ausschalten des Parlaments und des Verfassungsgerichtshofs heute nicht mehr so einfach machen, wie es 1933 war. Aber wenn das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Institutionen schwindet, könnten autoritäre Bestrebungen die Oberhand gewinnen – auch wenn in Wirklichkeit keiner in einer Diktatur leben will.“ Es sei daher Aufgabe jeder und jedes Einzelnen, einen Beitrag zur Erhaltung des Vertrauens zu leisten. Friedrich Forsthuber leistet ihn durch seine Tätigkeit als Richter und Leiter des größten Landesgerichts Österreichs – und durch „Erinnerungsarbeit“.

Friedrich Forsthuber ist Obmann des gemeinnützigen Vereins Justizgeschichte und Rechtsstaat und veranstaltet regelmäßig Führungen durch das Graue Haus an der Landesgerichtsstraße 11 in Wien, wo die Gedenkstätte – der Hinrichtungsraum während der NS-Zeit – samt Dauerausstellung ebenso wie das Mahnmal „369 Wochen“ vor allem an den Widerstand gegen die NS-Diktatur erinnern. Im Arbeits- und Sozialgericht führt Forsthuber Besucher durch die Ausstellung „Demokratie – Menschenrechte – Rechtsstaat“, 2019 ins Leben gerufen vom Verein Justizgeschichte und Rechtsstaat.


„Dafür bist zu viel zu weich“. Friedrich Forsthuber ist seit 2010    Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien. Er begann sein Jus-Stu­dium im Herbst 1981 an der Universität Wien und schloss es im November 1985 ab. Nach dem Gerichtsjahr schlug er die Richteramtslaufbahn ein. Am 1. März 1990 wurde er zum Richter ernannt; er begann im Bezirksgericht Döbling, anfangs zuständig für Mietklagen und Außerstreitverfahren, ab 1991 auch für Strafsachen.

Im Frühjahr 1991 erhielt Forsthuber einen Anruf vom damaligen Präsidenten des Straflandesgerichts Wien Dr. Günter Woratsch, ob er nicht – vor allem als Richter des Präsidiums – in seine Behörde wechseln wolle. „Als ich das bei einer Kaffeerunde erzählt habe, haben meine Kolleginnen und Kollegen gesagt: Fritz, mach das nicht – für dieses Haus bist du viel zu weich“, berichtet Forsthuber. Das Graue Haus hatte damals keinen guten Ruf. In Zeitungsartikeln wurden manche Richter des Straflandesgerichts mitunter als „Blutrichter“ tituliert.

Forsthuber nahm den Ruf von Landesgerichtspräsidenten Woratsch trotzdem wahr und wechselte im Mai 1991 von Döbling ins Graue Haus im 8. Bezirk. Dort war Forsthuber anfangs neben der Justizverwaltung als Untersuchungsrichter tätig. Ab 1994 wurde er Verhandlungsrichter, zuständig für allgemeine Strafsachen und Medienrechtsverfahren.

Mit 1. September 2005 wechselte Friedrich Forsthuber ins Oberlandesgericht Wien zur Abteilung Innere  Revision und in einen Rechtsmittelsenat in Strafsachen.

2004 ging Günter Woratsch in Pension. Dr. Ulrike Psenner wurde seine Nachfolgerin. Nachdem diese 2009 verstorben war, folgte ihr Friedrich Forsthuber nach. Mit 1. Jänner 2010 wurde er mit 46 Jahren zum jüngsten Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen Wien bestellt. Er wurde auch Nachfolger Psenners als Obmann der Fachgruppe Strafrecht in der „Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter“. Die Vereinigung ist mehr als eine Standesvertretung – „sie ist ein Garant der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter“, betont Forsthuber.

„Als Präsident ist es meine wich­tigs­te Aufgabe, den Richterinnen und Richtern des Hauses den Rücken für ihre Rechtsprechungstätigkeit freizuhalten, indem ich mich auch für ausreichende Ressourcen im Personal- und Sachbereich einsetze“, erläutert Forsthuber. Im Landesgericht für Strafsachen Wien sind derzeit 84 Richterplanstellen besetzt.


Richterliche Selbstverwaltung. Besonders wichtig sind ihm die richterlichen Personalsenate. Der Personalrat besteht meist aus fünf Richterinnen und Richtern des Gerichts – dem Präsidenten des Gerichts, dem Vizepräsidenten und drei für vier Jahre gewählten weiteren richterlichen Mitgliedern des Rats. Im Personalrat wird die Geschäftsverteilung bestimmt, über Bewerberinnen und Bewerber auf Richterplanstellen entschieden sowie Richterinnen und Richter beschrieben, nachdem sie zwei Jahre im Amt sind.

Das Personalsystem, wonach jeder der 20 Gerichtshöfe erster Instanz, der vier Oberlandesgerichte und des Obersten Gerichtshofs über einen eigenen Personalsenat verfügt, folgt dem Grundsatz der richterlichen Selbstverwaltung. „Diese breite Aufgestelltheit ist ein wichtiger Pfeiler der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter in Österreich“, erklärt Friedrich Forsthuber. „Viele andere Länder regeln ihr Personalwesen zentral in einem Richterrat.“ Die Richterräte bestehen aus Richterinnen, sowie Vertretern der Anwaltschaft und der Politik. „Die Politik kann damit großen Einfluss auf das Personalwesen der Rich­terschaft erlangen“, erläutert Forsthuber. Der türkische Staatspräsident Recip Erdogan beeinflusste die Zusammensetzung im Richterrat, sodass er nach dem Putschversuch im Juli 2016 rund 40 Prozent der Richterinnen und Richter „entfernen“ lassen konnte. Bereits vor dem Putschversuch soll es „schwarze Listen“ gegeben haben mit den Namen unliebsamer Richter.


Rote Linien. Nicht unähnlich hat es Viktor Orbán in Ungarn gemacht. Er ist 2010 an die Macht gekommen und schränkte die Unabhängigkeit der Gerichte nach und nach ein. Er setzte das Pensionsalter der Richter von 70 auf 62 herab, ließ den Präsidenten des Obers­ten Gerichtshofs, der „Kurie“, absetzen und verlagerte wesentliche Zuständigkeiten für den Präsidenten der neu geschaffenen Landesgerichtsbehörde. Orbán setzte Maßnahmen im Justizwesen, die er zum Teil auf Druck der EU zurücknehmen musste. „Daher finde ich es wichtig, dass Ungarn bei der EU ist“, betont Forsthuber. „Auch wenn Orbán immer wieder gegen Regeln der EU verstößt, kann die Union rote Li­nien ziehen, so dass er nicht zu weit geht und die Demokratie ganz abschafft.“ Dennoch sei es Orban gelungen, die liberale Demokratie in Ungarn auszuhebeln.

Ein wesentlicher Schutzfaktor für die „dritte Gewalt“ im Staat ist Vielfalt im Personalwesen. Dazu gehört auch die Gleichstellung von Frauen und Männern im Berufsstand. „Das ist anfangs sehr schleppend gegangen“, sagt Forsthuber. Die erste Frau als Richterin wurde erst 1947 bestellt. Bei einer Enquete 1968 wurde beklagt, dass es in Österreich nicht mehr als 21 Richterinnen und Staatsanwältinnen gab – bei etwa 2.000 insgesamt. 1970 waren immer noch nur ein Prozent der Richter und Staatsanwälte Frauen, 1975 waren es zehn Prozent. Als Friedrich Forsthuber Anfang der 1990er-Jahre in sein Amt bestellt wurde, war ein Drittel der Richterstellen im Grauen Haus mit Frauen besetzt. Seit Anfang der 2000er-Jahre ist das Verhältnis zwischen Frauen und Männern ausgeglichen – auch in Führungspositionen. Auch beim Obersten Gerichtshof, schätzt Forsthuber, wird das Verhältnis spätestens in fünf Jahren ausgeglichen sein. Bei den erfolgreichen Absolventen des Jusstudiums gibt es heute einen Überhang an Frauen.


Vielfalt widerspiegeln. „Wie wichtig es ist, dass die Richterschaft die Gesellschaft in ihrer Vielfalt widerspiegelt, haben wir in der Ersten Re­pub­lik gesehen, auch zwischen 1918 und 1933“, hebt Friedrich Forsthuber hervor. Damals wurden die Richteramtsanwärter – sie waren ausschließlich männlich – durchwegs aus Mitgliedern von (konservativen und deutsch­nationalen) Burschenschaften rekrutiert. Dementsprechend fielen ihre Urteile aus. Es kam zu einer politisch gefärbten Rechtsprechung, „wobei die Richter auf dem rechten Auge blind waren“, sagt Friedrich Forsthuber. Als Engelbert Dollfuß die Macht ergriff, übernahm er die Richterschaft eins zu eins in sein System und gelobte sie auf die Regierung an. Als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte, trennten sich die Nationalsozialisten nur von 13 Prozent der Richter und Staatsanwälte – 60 Prozent waren schon im Ständestaat illegale Nazis. Nach 1945, in der Aufarbeitung der Nazizeit in Österreich, konnten viele der belasteten Richter und Staatsanwälte in der Justiz verbleiben. Von 1945 bis 1955 entschieden österreichische Sondergerichte („Volksgerichte“) über Kriegsverbrechen, danach Geschworenengerichte. Von 1956 bis 1975 gab es nur mehr 43 Angeklagte, 23 davon wurden freigesprochen. Mitte der 1970er-Jahre wies Justizminister Christian Broda die Staatsanwälte an, weitere Anklagen angesichts dieser Haltung der Bevölkerung zu unterlassen. Zur nächsten (und letzten) Anklage in Österreich kam es erst im Jahr 2000 gegen den NS-Arzt Heinrich Gross wegen mutmaßlicher Gräueltaten am Wiener „Spiegelgrund“ an Kindern, die die Nazis als „unwertes Leben“ eingestuft hatten. Am ersten Prozesstag wurde Gross allerdings Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt – wegen fortgeschrittener Demenz. Das Verfahren war damit zu Ende.


Ethik in der Justiz. „Die österreichische Richterinnen- und Richtervereinigung hat sich nach den 1980er-Jahren immer breiter aufgestellt und eine Ethik-Erklärung umgesetzt“, unterstreicht Gerichtspräsident Forsthuber. Darin ist unter anderem festgelegt, dass sich Richterinnen und Richter von der Betätigung für politische Parteien bewusst fernzuhalten haben. Das war nicht immer so. 1983 bis 2006 war beispielsweise mit Dr. Helene Partik-Pablé eine Richterin für die FPÖ im Nationalrat. Des Weiteren ist es Richterinnen und Richtern untersagt, während ihrer hoheitlichen Tätigkeit religiöse oder sonstige weltanschauliche Symbole zu tragen. „Allein schon der Anschein der Befangenheit soll unterbunden werden“, sagt Forsthuber.

Auch religiöse Symbole verschwanden nach und nach aus den Gerichtssälen – so auch die „Schwurgarnitur“ (Kreuz und zwei Kerzen). Sie wurde herangezogen, wenn ein Aussagender nach dem Eidesgesetz 1868 vereidigt werden sollte. „In Strafverfahren wurde die Vereidigung von Zeugen bereits vor rund 40 Jahren abgeschafft“, berichtet Forsthuber.


Digitale Welt. Die Herausforderungen für die Zukunft liegen nach Forsthuber im Bereich der sozialen Medien, in der Digitalisierung der Verfahren allgemein und in der zunehmenden Zahl an großen Wirtschaftsverfahren. „Korruptionsverfahren sind meistens sehr komplex, aufwendig und zeitintensiv“, betont der Gerichtspräsident. „Die meisten Strafverfahren ­dauern unter drei Monaten und selten mehr als sechs. Die Verfahrensdauer in großen Wirtschaftsverfahren von 10 bis 15 Jahren, wie im Fall des ehemaligen Finanzministers Karlheinz Grasser, ist unzumutbar – für alle Beteiligten.“

Verfahren mit einem bestimmten Umfang seien aufgrund der aktuellen Gesetzeslage kaum abkürzbar – effi­zienter gemacht werden könnten sie künftig nur nach sorgfältiger Kosten-Nutzen-Abwägung. „Ich muss mir bei der Zielabwägung die Frage stellen, wie kann ich ökonomischer vorgehen im Sinne einer raschen Verfahrensführung, ohne auf eine inhaltlich richtige Entscheidung zu verzichten“, erklärt Forsthuber. Das bedürfe nicht immer einer Wahrheitsfindung bis ins letzte Detail, sondern Abstrichen bei Nebenaspekten. „Man muss einen goldenen Mittelweg finden“, sagt er.

In anderen Ländern haben Staatsanwaltschaft und Beschuldigte in Wirtschaftsstrafsachen die Möglichkeit, sich gerichtlich zu einigen – durch „verfahrensbeendende Absprachen“. Diese haben Vorteile für beide Seiten und das Verfahren wird zeitlich stark abgekürzt. „Man muss immer vorsichtig sein mit der Übernahme von Systemteilen aus anderen Ländern“, warnt Forsthuber. „Prüfenswert fände ich es aber.“


Vorsicht, Etikettenschwindel. Die immer wieder geforderte Einführung eines Bundesstaatsanwalts als Letztinstanz der Staatsanwaltschaften „könnte ein rechtsstaatlicher Fortschritt sein“, sagt Forsthuber, doch er warnt vor einem Etikettenschwindel. Er beurteilt es als positiv, dass derzeit ein Dreier-Gremium geplant sei. Würde man von einer Einzelperson als Bundesstaatsanwalt ausgehen, wäre es möglicherweise besser, beim derzeitigen Modell zu bleiben, wonach der Justizminister bzw. die Justizministerin per Weisung (allerdings transparenter) in Verfahren eingreifen könnte. „Das ist insofern ehrlicher, als man weiß, dass die Person an der Spitze des Ministeriums eine Politikerin oder ein Politiker ist und somit eine parteipolitische Färbung hat“, sagt Forsthuber. Würde die Bundesstaatsanwaltschaft nach parteipolitischen Kriterien mit Richterinnen und Richtern besetzt werden, liege der Verdacht nahe, dass sie parteipolitisch entschieden. Sie könnten sich aber möglicherweise hinter dem Etikett ihrer Weisungsfreiheit und – nur scheinbaren – Unabhängigkeit verschanzen. Der Anschein der Befangenheit könnte trotzdem im Raum stehen. Eine Auswahl unabhängig von Parteieneinfluss sei daher wichtig.

Forsthuber warnt auch vor zu weitgehenden Veröffentlichungspflichten. „Wenn die Bundesstaatsanwaltschaft verpflichtet wird, an das Parlament zu berichten, darf das nicht so gestaltet werden, dass kriminaltaktisch Sand ins Getriebe kommt“, betont der Gerichts­präsident. Berichtspflichten nachträglich befürwortet er, vor Berichtspflichten während laufender Ermittlungsverfahren warnt er.


Messenger-Überwachung durch die Polizei. Prüfenswert findet Präsident Forsthuber auch die Einführung der Messenger-Überwachung durch die Polizei analog zur Telefonüberwachung. „Man wird Möglichkeiten schaffen müssen, mit denen die Polizei mithören oder -lesen kann, was Kriminelle verabreden – auf welchen Plattformen auch immer“, sagt der Ge­richts­präsident. „Allerdings kann das nur bei dringender Verdachtslage sein und bei gravierenden Delikten. Auch hier müssen wir wieder den Ausgleich finden zwischen dem Ziel, der organisierten Kriminalität und dem Terror einen Riegel vorzuschieben, und dem Ziel, die Privatheit und Daten zu schützen. Außerdem sollte das keine Insellösung in Österreich sein, sondern da brauchen wir eine europäische Lösung.“

Soziale Medien haben für Friedrich Forsthuber noch eine zweite Seite, die gerichtlich zum Tragen kommt: Oft kommen die Menschen auf Facebook & Co nicht mit ihren Emotionen zurecht. Sie lassen sich in ihren Echokammern von Fake News verführen und zu Shitstorms hinreißen. „Wenn es gelingt jemanden auszuforschen, der in einem Shitstorm zum Beispiel eine gefährliche Drohung äußert, wundern sich viele in der Gerichtsverhandlung über ihre eigenen Aussagen und sagen, ‚das wollte ich nicht‘“, berichtet Forsthuber. „Auch Richterinnen und Richter sind des Öfteren von Beleidigungen, Drohungen und Diffamierungen betroffen.“ Forsthuber plädiert dafür, die Betreiber der Plattformen in die Pflicht zu nehmen, auch was politische Hass-Postings betrifft, wo es auch um Rassismus oder Antisemitismus geht.


Holocaust und Antisemitismus unbekannt. Auf der anderen Seite müssten der Staat und die Gesellschaft mehr in Bildung und Information in­ves­tieren, um „den Anteil der mündigen Bürgerinnen und Bürger wieder zu vermehren“, betont Forsthuber. Bei einer Befragung von 1.200 Wiener Schülerinnen und Schülern berufsbildender und höherer Schulen im Jahr 2018 konnten über 80 Prozent mit dem Wort „Antisemitismus“ nichts anfangen oder definierten es falsch. In einer Umfrage der „Jewish Claims Conference“ 2023 vermeinte jeder vierte junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren, der Holocaust habe nur wenigen Menschen das Leben gekostet – tatsächlich waren es allein sechs Millionen Jüdinnen und Juden.

„Wir bräuchten in den Schulen ein Unterrichtsfach, und zwar als Pflichtfach, wo die Schülerinnen und Schüler die Grundzüge von Demokratie und Recht erfahren“, fordert Forsthuber. „Auch die Institutionen müssen mehr in die Pflege und in den Erhalt der Demokratie investieren, die Justiz genauso wie alle anderen demokratischen Einrichtungen. Demokratie braucht Beziehungsarbeit, so wie es in jeder Beziehung notwendig ist. Sonst stehen wir möglicherweise eines Tages fassungslos vor einem autokratischen Populisten als Regierungschef und fragen uns, wie es so weit kommen hat können.“

Es bedürfe unter anderem Maßnahmen für einen vernünftigeren Umgang mit sozialen Medien und es sei wichtig, den Auswüchsen der Globalisierung einen Riegel vorzuschieben. „Wir sind mit einem ausufernden Neokapitalismus konfrontiert, mit einer Globalisierung, die uns entglitten ist, und mit Angst, Hass und Hetze im Umgang miteinander in sozialen Medien“, erläutert Forsthuber. Die Wahl von Demagogen wie Donald Trump sei eine Folge dieser Entwicklungen. „Meine große Hoffnung ist die EU als Vernunftträger und als Wertegemeinschaft, die hoffentlich bald stärker Konturen zeigt und auch restriktiver gegenüber Verstößen gegen ihre Grundwerte vorgeht.“


Ping-Pong-Spiel mit der Verantwortung. Gefordert sei aber jede und jeder Einzelne. „Für die Zivilgesellschaft ist es eine Herausforderung, den demokratischen Rechtsstaat und damit ihre Freiheiten zu erhalten“, betont Friedrich Forsthuber. „Daran müssen wir arbeiten. Wir können nicht die Hände in den Schoß legen.“ Der Großteil der Zivilgesellschaft ist aber leise oder verunsichert. Das müsse sich ändern.

Ändern müsse sich auch das Ping-Pong-Spiel mit der Verantwortung. „Die Verantwortung für Unangenehmes schiebt der Bürgermeister auf die Landesregierung, die Landes- auf die Bundesregierung und für alle ist die EU der Sündenbock“, erklärt Forsthuber. „Und das, was funktioniert, schreibt sich jeder selbst auf die Fahnen, auch dann, wenn es der EU zuzuschreiben wäre.“ Das sei einer der Gründe, warum die EU an Umfragewerten verliere.

Politikerinnen und Politiker schneiden sich damit aber ins eigene Fleisch, weil mit dem Verlust des Vertrauens in die EU auch das Vertrauen in Einrichtungen der demokratischen Rechtsstaaten verloren geht. „Daher müssen wir am Vertrauen in Institutionen gesamtheitlich arbeiten“, mahnt der Gerichtspräsident. „Und wir müssen den Menschen in unserem Land bewusst machen, wie wertvoll die Demokratie ist und was jeder beitragen muss, damit sie funktioniert.“












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