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Gerhard Brenner

Zwang in Weiß

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge werden in Österreich jährlich bis zu 200 Zwangsehen geschlossen. In einer Untersuchung wurden Ursachen und Auswirkungen

erstmals in Österreich erforscht.



Fatima flüchtete mit 16 mit ihrem älteren Bruder aus Syrien nach Österreich. Den beiden hätte in ihrem Heimatland der Einzug zum Militär gedroht. Ihre Mutter und ihr Vater blieben in Syrien. Die Mutter war krank. Als Fatima bei den Behörden in Österreich ihr Alter als Minderjährige angab und sie gefragt wurde, ob jemand für sie die Obsorge übernehmen könne, fiel ihr ihr Onkel ein. Sie wurde in seine Obhut übergeben.

Der Onkel lud Fatima ein, bei ihm, ihrer Tante und ihrem Cousin zu wohnen. Drei Tage nach ihrer Ankunft wollte er ein „Willkommensfest“ veranstalten. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Hochzeitsfeier. Fatima wurde mit ihrem Cousin verheiratet. Sie war in der Falle. Bereits in der Hochzeitsnacht vergewaltigte sie ihr Ehemann mehrfach.

Das Leben wurde zur Hölle: Fatima musste die bettlägerige Tante pflegen, den Haushalt erledigen für den Onkel und ihren Cousin, und nebenbei musste sie im Restaurant des Onkels putzen. Fatima litt unter Depressionen und versuchte, sich das Leben zu nehmen.

Eines Abends kam es zu einem Gewaltausbruch ihres Mannes. Er prügelte sie durch die Wohnung und bedrohte sie mit einem Messer. Fatima flüchtete auf die Straße. Passanten riefen die Polizei. Fatima wurde Mitarbeitern des Vereins „Orient-Express“ übergeben und in einer betreuten Unterkunft untergebracht.

 

22 Millionen Betroffene. Weltweit sind rund 22 Millionen Menschen von Zwangsehen betroffen, neun Millionen davon sind Kinder. Das haben internationale Studien ergeben. In Österreich sind wissenschaftlichen Schätzungen zufolge jährlich etwa 200 Opfer von Zwangsverheiratungen betroffen. Als Delikt im Strafgesetzbuch (§ 106a) gibt es die „Zwangsheirat“ seit 2016. Zwischen 2016 und 2022 gab es österreichweit 61 Anzeigen. In acht Fällen davon kam es zu Verurteilungen.

Das Dunkelfeld ist vermutlich deshalb so groß, weil sich das Delikt meis­tens im familiären Umfeld abspielt, Opfer und Täter sind meistens nicht österreichische Staatsbürger und sie gehören auch einem anderen, in sich recht geschlossenen Kulturkreis an. Die Sprachbarriere ist hoch, mit Behörden bestehen Berührungsängste, weil die Opfer oft auch um ihr Aufenthaltsrecht fürchten und weil sie sich oft nicht als Opfer wahrnehmen.

Der Straftatbestand der Zwangsheirat ist lückenhaft. Umfasst sind aus­schließlich formelle, staatliche Eheschließungen und Verpartnerungen. Nicht strafbar ist eine staatlich nicht anerkannte Eheschließung, wie rituelle oder religiöse Verehelichungen. Auch die Verlobung fällt nicht unter § 106 a Strafgesetzbuch und auch nicht das Aufrechterhalten einer Zwangsehe, die früher, eventuell in einem anderen Land geschlossenen worden ist.

 

Studie. Das wird im „Lagebild Zwangsverheiratungen“ aufgezeigt. Es wurde in den vergangenen Monaten von einer Forschungsgruppe erstellt, unter dem Titel „Forma“ („Forced Marriage“). Auftraggeber waren das Innenministerium, das Bundeskanzleramt, das „Ludwig-Boltzmann-Institut für Grund- und Menschenrechte“, die Universität Wien, der Verein „Orient-Express“ und die Caritas. „Generell ist die Datenlage in Bezug auf Zwangsverheiratungen in Österreich sehr dünn“, sagt die Leiterin des Forschungsprojekts, Maryam Alemi, BA MA von der Rechtsberatung der Caritas. „Die Daten, auf die wir zurückgegriffen haben, etwa die Kriminalstatis­tik, Akten und Gerichtsentscheidungen, waren oft auf Teilbereiche beschränkt. Das hat die Aussagekraft und die Ableitung von Maßnahmen schwerer gemacht.“

Letztlich analysierten die Forscherinnen und Forscher 370 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) sowie 129 Akten des Vereins „Orient-Express“ und führten Interviews mit Experten und Betroffenen. In den 129 Akten des Vereins „Orient-Express“ ging es um familiäre und partnerschaftliche Probleme. In 92 (70 %) der 129 Fälle hatten sich die „Partnerschaften“, um die es ging, als Zwangsehen herauskristallisiert. Diese gingen ausnahmslos mit psychischer Gewalt einher, wie Einschüchterungen, Erpressungen, Demütigungen und Drohungen mit Gewalt. In 82 der 92 Fälle mit psychischer Gewalt war auch körperliche Gewalt mit im Spiel. Die Opfer wurden gewürgt, verprügelt und mit Gegenständen misshandelt. In 31 der 92 Gewaltfälle wurden die Opfer zudem sexuell misshandelt, zu sexuellen Handlungen genötigt oder vergewaltigt. Jedes zweite Opfer (49) wurde mit dem Umbringen bedroht. Ebenso jedem zweiten Opfer (53) wurde gedroht, es zu verschleppen, wenn es sich nicht an „die Regeln“ hielte. In sieben Fällen wurde das Opfer tatsächlich verschleppt.

 

Leben in Isolation. Eine Aufdeckung und Beendigung des Leids für die Opfer ist meist schwierig, da sich die Delikte allesamt im Schutze der Privatheit und im Familiären abspielen. Oft werden die Opfer völlig isoliert von der Umwelt und oft reichen die familiären Bande und religiöse Zwänge aus, um das Opfer von der Umwelt fernzuhalten.

In 65 (71 %) der 129 untersuchten Fälle verboten die Eltern oder andere Verwandte den Mädchen den Umgang mit einem selbst gewählten Freund. Sie wurden mit Hausarbeiten eingedeckt, so dass sie nicht auf „falsche Gedanken“ kamen. Sexualität wird in der Regel ohnehin tabuisiert. In 29 (31 %) der 129 untersuchten Fälle wurde mit Verboten und Tabuisierung darauf gedrängt, die Jungfräulichkeit der Opfer zu erhalten. Aus diesem Kreislauf auszubrechen, ist schwer bis nicht möglich.

Armina beispielsweise war mit ihren Eltern als Kind nach Österreich gekommen. Nach der Schule ergriff sie eine Lehre. Als sie 17 war hatte sie heimlich einen Freund. Eines Tages kamen ihre Eltern dahinter, weil sie Arminas Smartphone kontrolliert hatten. Sie verboten den Kontakt zum Freund und gingen intensiv auf die Suche nach einem aus ihrer Sicht geeigneten Mann. Armina sei nun im „richtigen Alter“, um zu heiraten. Sie durfte nur mehr in Begleitung aus dem Haus, auch in die Schule und zur Lehrstelle.

Dennoch konnte sie ihren Freund immer wieder treffen. Dieser stieß im Internet auf den Verein „Orient-Express“. Sie nahm Kontakt auf mit der Frauenberatungsstelle auf. Eine Mitarbeiterin des Vereins besuchte Armina in der Schule – und sprach mit ihr während des Unterrichts unter vier Augen. Arminas Eltern durften nichts davon erfahren, speziell ihr Bruder überwachte sie auf Schritt und Tritt und Armina hatte Angst vor ihm. Die Eltern hatten mittlerweile einen Heiratskandidaten für Armina gefunden. Sie bereiteten die Hochzeit vor.

Armina riss unter Begleitung der Kinder- und Jugendhilfe von zu Hause aus und kam in einer Schutzeinrichtung des „Orient-Express“ unter. Sie wechselte die Schule und nach einigen Monaten kam sie in einer Lehrstelle in einem anderen Bundesland unter sowie in einer betreuten Wohngemeinschaft. Ganz gebannt ist die Gefahr immer noch nicht, aber Armina darf hoffen.

Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Opferschutzeinrichtungen funktioniert nicht immer optimal. „Sie wäre aber in vielen Fällen essentiell“, betont Dr. Helmut Sax vom Ludwig-Boltzmann-Institut. Auch Projektleiterin Maryam Alemi hält „eine bereichsübergreifende Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen für ein wesentliches Element, um Betroffene zu identifizieren und zu schützen“. Unumgänglich sei auch die Zusammenarbeit mit Jugend- und Sozialarbeit, Strafverfolgung und Justiz, Behörden und dem Gesundheitswesen. „Außerdem ist ein bundesweiter Ausbau von niederschwelligen Anlaufstellen wichtig, wo mehrsprachige psychosoziale Beratung angeboten werden kann“, sagt Alemi.

Heiraten mit 18. „Wir empfehlen auch dringend, das Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre anzuheben“, sagt Helmut Sax. „Beratungsangebote für Ehekandidatinnen und -kandidaten sollten ausgebaut werden, damit Opfer und potenzielle Opfer mehr über rechtliche Gegebenheiten in Österreich erfahren.“

Derzeit beträgt das Ehefähigkeitsalter zwar 18 Jahre, doch können Jugendliche heiraten, wenn sie über 16 sind und ihre Erziehungsberechtigten in die Hochzeit einwilligen – oder sie betreiben. Pläne, die Ausnahmeregelung für unter 18-Jährige abzuschaffen, gibt es schon seit mehreren Jahren. Auch die Ehe zwischen Cousin und Cousine soll verboten werden, ebenso zwischen Nichten und Neffen sowie Onkeln und Tanten. All das fand sich im Regierungsprogramm der ÖVP-Grüne-Koalition niedergeschrieben. Justizministerin Dr. Alma Zadić wollte die Verbote als „Beitrag im Kampf gegen Zwangsehen“ durchsetzen. Es kam aber nicht dazu. Im Parlament langte kein entsprechender Gesetzentwurf ein.

Ein Allheilmittel gegen Zwangsverheiratungen sehen Experten in einem Verbot von Heiraten unter 18 nicht. Der Unterschied im Durchsetzungsgrad einer 16- und einer 18-Jährigen ist nicht allzu groß, vor allem gegenüber einer Respektsperson, wie es Vater, Mutter oder andere nahe Angehörige sind. Expertinnen und Experten fordern eine Erweiterung des Zwangsverheiratungs-Paragrafen auf Verlobungen, informelle Ehen und eheähnliche Gemeinschaften. Wenn Minderjährige zwangsverheiratet werden, sollten die Täter strenger bestraft werden.

 

Ausgangssperre und Standortverfolgung. Ein Ausbruch, wie er Armina glückte, gelingt den wenigsten. In 49 (53 %) der 129 untersuchten Fälle belegten Eltern und andere Verwandte die Opfer späterer Zwangsehen mit Ausgangssperren, nahmen ihnen das Handy ab, verfolgten ihre Standorte via Smartphone und kontrollierten ihre Kontakte in den sozialen Medien. In 28 Fällen (30 %) wurden sie mit einem Verbot belegt, Hosen zu tragen, sich zu schminken, und mit dem Zwang, Kopftuch zu tragen. Einige durften sich nicht allein in einem Zimmer aufhalten und mussten Taschenkontrollen erdulden. In 32 (35 %) der untersuchten Fälle wurde den Opfern häufig untersagt, zur Schule zu gehen; sie mussten eine Ausbildung abbrechen, um sich dem (künftigen) Ehemann widmen zu können; oder sie mussten ihr Gehalt dem Familienoberhaupt abliefern.

Oft verschwimmen die Phänomene „Zwangsehen“ und „Aufenthaltsehen“ – Eheschließungen mit dem Zweck, jemanden über den Familiennachzug nach Österreich zu holen. Nagma zum Beispiel kam mit sechs Jahren mit ihrer Familie aus Pakistan nach Österreich. Als sie 15 wurde, wurde sie mit ihrem Cousin Hamid verlobt. Sie kannte ihn kaum, hatte nur von ihm gehört und ihn nur ein paar Mal bei Familientreffen in Pakistan gesehen. Im Frühjahr 2022 wurde Nagma 18. Im Sommer dieses Jahres musste sie nach Islamabad in Pakistan reisen und ihren Cousin Hamid heiraten. Im März 2023 stellte dieser in der österreichischen Botschaft in Pakistan einen Antrag auf Familiennachzug. Dem Antrag wurde ein halbes Jahr später stattgegeben und Hamid zog nach Österreich.

Das Ehepaar wohnte zusammen. Nagma arbeitete tagsüber, ihr Ehemann nachts. Das fiel einem Nachbarn auf und er setzte sich mit den Behörden in Verbindung. Beamte der zuständigen Landespolizeidirektion und der Niederlassungsbehörde leiteten Ermittlungen ein, um zu prüfen, ob es sich um eine reelle Ehe handelte oder um eine „Aufenthaltsehe“. „Zwangsehen“ sind nach dem Strafgesetzbuch strafbar, „Aufenthaltsehen“ nach dem Fremdenpolizeigesetz (§ 117). Im ersten Fall gibt es Täter und Opfer, im zweiten machen sich beide Eheteile strafbar – für die Behörden ist das ein schwer aufzulösender rechtlicher Konflikt. Für die Delikte sind unterschiedliche Ermittlungsbehörden zuständig, die jeweils in ihre Richtung ermitteln. Das Ganze spielt sich einerseits im Privaten ab, andererseits ist die Absicht zur Eheschließung schwer nachweisbar.

 

Tief verwurzelt. Die Ehen werden oft geschlossen, bevor die Betroffenen nach Österreich auswandern, oder die Opfer werden bei einem Urlaub in der Heimat verheiratet – wie das bei Nagma der Fall war. Dass Frauen nicht das Recht haben, sich ihren Partner auszusuchen, ist oft tief verwurzelt in den Familien und damit auch in den Opfern selbst. In patriarchal geführten Familien liegt die Entscheidung beim Vater allein – fehlt er, dann haben andere männliche Familienmitglieder das Sagen, zum Beispiel Brüder, Onkel oder Cousins. Frauen wirken auf die Opfer ein – wie zum Beispiel die Mutter von Marjan.

Marjan war Afghanin und hatte den Großteil ihrer Kindheit in Pakistan verbracht. Ihre Eltern waren mit ihr und ihren älteren Brüdern vor den afghanischen Taliban nach Pakistan geflüchtet. Jetzt hielten sie sich dort illegal auf. Ihnen drohte die Abschiebung zurück nach Afghanistan.

Als Marjan 14 wurde, eröffnete ihr die Mutter, dass sie ihren Cousin heiraten müsse. Dieser war um 15 Jahre älter als Marjan. Als sie sich gegen die Verheiratung wehren wollte, beruhigte die Mutter: Sie habe auch mit 14 geheiratet und ihr erstes Kind bekommen. Marjan sollte ihrem künftigen Ehemann Kinder schenken.

Marjan wurde aus der Schule in Pakistan genommen und sie musste zu ihrem Ehemann und dessen Familie ziehen. Dort drangsalierte sie ihre Schwiegermutter. Sie wollte sich nicht damit abfinden, dass Marjan nicht und nicht schwanger wurde. Die Frau miss­handelte das Mädchen und zwang es zur Hausarbeit.

Kurzfristig gelang es Marjan, aus ihrem „Gefängnis“ in Pakistan auszubrechen. Sie suchte bei ihren Eltern Schutz. Doch sie bekam ihn nicht. Ihr Vater brachte sie zurück zu ihrem Ehemann und dessen Familie. Die Tortur begann von Neuem.

Eine Tante Marjans soll die missliche und aussichtslose Lage Marjans in Pakistan  erkannt haben. Sie soll beschlossen haben, sie daraus zu befreien. Die Tante soll ihren Schmuck verkauft haben und Marjan die Flucht nach Österreich mit dem Erlös finanziert haben. Marjan war 19, als sie nach Österreich kam. Angeblich wurden mittlerweile ihre Eltern und ihre Geschwister von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben.

Marjans Asylverfahren in Österreich ist noch offen. Die Bearbeiter im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl halten laut Marjan einzelne Punkte in ihrer Geschichte für nicht glaubwürdig. Zum Beispiel sei es wenig realistisch, dass die Tante ihren Familienschmuck verkaufen konnte, ohne dass es jemand von der Familie bemerkt habe.

Die Beweisbarkeit in Fällen von Zwangsehen ist generell ein Problem, vor allem wenn die Verheiratung im Herkunftsland einer Asylwerberin erfolgt ist, noch vor der Flucht wie im Fall von Marjan.

Die Forschergruppe um Projektleiterin Maryam Alemi fordert, dass sich sensibilisierte Polizistinnen und Dolmetscherinnen mit Antragstellerinnen auseinandersetzen, wenn sie ins Treffen führen, zwangsverheiratet worden zu sein. „Viele Betroffene sind sehr jung, rechtsunkundig und haben wenig Bildung“, erläutert Alemi. Die Opfer bräuchten Rechtsberatung bereits in erster Instanz in ihrer Heimatsprache. „Viele Betroffene können die Zwangsheirat als solche nicht benennen“, sagt Alemi. Schließlich ist es „normal“ für sie, vom Vater einem Ehemann zugewiesen zu werden. „Was sie aber immer tun, ist: Sie sprechen von den Auswirkungen, unter denen sie tagtäglich zu leiden haben.“ Hier könnten die Beamten einhaken.









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