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Julia Brunhofer, Herbert Zwickl

Stille Gehirnwäsche

Unsere Gesellschaft verändert sich. Viele verlieren den Halt. Es fehlen die Perspektiven. Die vermeintlichen Helfer in solchen Situationen nützen diese Orientierungslosigkeit oftmals schamlos aus. Betroffene werden Opfer einer stillen Gehirnwäsche im Namen einer Gottheit oder überirdischen Macht, die im Volksmund oft als Sekte bezeichnet wird.



Um Jesus zu begegnen“ hat der selbsternannte Pastor Paul Mackenzie aus Kenia mehr als 400 seiner Anhänger in den Tod getrieben. Gemeinsam haben sie sich zu Tode gehungert. Eine Verurteilung steht noch aus. Ob „Die Manson Family“, als wohl bekannteste und meistverfilmte Sekte der Welt, „Fiat Lux – es werde Licht“, welche von einer Frau geführt wurde, die sich als Sprachrohr Gottes verstand und an Reinkarnation glaubte, oder Scientology, welche nicht zuletzt durch berühmte Persönlichkeiten wie Tom Cruise weltweit bekannt wurde und ihre Kirche auch in Österreich hat – sie alle haben eines gemein: sie bieten Orientierung, Halt und ein Netz an Überzeugungen.

„In solchen Strukturen wird versucht, deine Persönlichkeit zu brechen und auszutauschen. Alles wird kontrolliert – die Handlungen, das Denken, die sozialen Kontakte, die Gefühle“, erinnert sich Hans, der über 30 Jahre lang in einer sektenähnlichen Gruppierung gelebt hat.  „Meine Eltern haben sich kurz vorher scheiden lassen, was mir einen gewissen Schlag versetzt hat. Genau das wurde von dem Guru schamlos ausgenutzt. Er hat seine eigenen Probleme auf mich übertragen. Ich wusste damals nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Der hat mir erzählt, ich sei ein Narzisst. Und ich dachte, meine Probleme kommen aus meiner narziss­tischen Störung. Dabei war er selbst ein schwerer Narzisst mit psychopatisch gestörter Persönlichkeit. Das war eine gezielte Manipulation der Umwelt, was einen Realitätsverlust erzeugt. Und du hast nur noch Angst. Deshalb bleibt man in diesem Konstrukt.“

Ähnliche Erlebnisse kennt Mag. Claudia Adler aus ihrem täglichen Arbeitsalltag. Sie ist stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesstelle für Sektenfragen, deren gesetzlicher Auftrag es ist, Betroffene in Österreich zu beraten – telefonisch, persönlich oder via Video-Conferencing-Tools. Genaue Zahlen zu Sekten oder ihren Mitgliedern gibt es nicht. Und auch keine eindeutige Begriffsbestimmung.

 

Fehlende gesetzliche Definitionen. „Zum Begriff „Sekte“ gibt es unterschiedliche Definitionen. Umgangssprachlich versteht man darunter eine vereinnahmende, potenziell gefährliche Gemeinschaft oder Organisation, die Menschen psychisch schädigt und finanziell ausbeutet“, erklärt Adler. „Was aus staatlicher Sicht als „Sekte“ gilt, ist gesetzlich nicht definiert, auch „Religion“ und „Weltanschauung“ sind unbestimmte Gesetzesbegriffe, für welche die österreichische Rechtsordnung keine einschlägigen Definitionen hat. Daher wird auch von der Bundesstelle der Begriff „Sekte“ nicht verwendet, vielmehr werden spezifische Merkmale und Strukturen, Erfahrungen und unterschiedliche Auswirkungen von verschiedenen Angeboten auf unterschiedliche Personen untersucht. Ein entsprechender Ersatzbegriff für „Sekte“, der das Phänomen kurz und prägnant charakterisiert, konnte jedoch bis heute nicht gefunden werden.“ Fest steht: Eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu gründen, ist jedem unbenommen. „Religionsfreiheit als wichtiges Rechtsgut unterliegt in Österreich besonderem Schutz, Grundlage dafür sind in die Verfassung aufgenommene Gesetze, mehrere internationale Verträge, die ebenfalls in Verfassungsrang stehen, und die einschlägigen EU-Richtlinien“, so Adler. „Möglich ist dies als „Gesetzlich anerkannte Kirche oder Religionsgesellschaft“, als „Religiöse Bekenntnisgemeinschaft“, als Verein oder einfach auf informeller Basis. Einschränkungen gibt es bei der Überschreitung bereits bestehender Gesetze, etwa bei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit. Strafrechtlich relevant wäre auch, wenn Symbole verbotener extremistischer Gruppierungen verwendet werden.“

Klassisches Merkmal einer „sogenannten Sekte“ ist eine meist charismatische, von allen uneingeschränkt verehrte Führungsperson, deren Wissen und Aussagen absolut wahr und nicht hinterfragbar sind. „Das sind wie Widerhaken, die sich im Kopf einsetzen. Die bekommt man sehr schwer wieder raus. Alles von außen ist böse. Deshalb ist es auch so schwer, sich außen zu informieren, wenn einem auch mal Zweifel kommen“, weiß Hans aus eigener Erfahrung. „Und alles was du falsch machst, ist auf dein Problem zurück zu führen. Diese Anschauung wird sehr verdichtet – und damit dann das Problem.“

 

Das „Konzept Sekte“. Wie stark diese Wirkmechanismen innerhalb der Gemeinschaft sind, lässt sich am Beispiel der aus Korea stammenden Organisation „Shincheonji“ (das bedeutet übersetzt „Neuer Himmel – neue Erde“) erkennen. Eine Organisation, die der Bundesstelle für Sektenfragen gut bekannt ist und von der sich immer wieder Aussteiger melden.

Der Gründer und Führer ist der 92jährige Man Hee Lee, der sich als Endzeitpastor und Prophet Gottes versteht. Die Gläubigen sind überzeugt, zu den Auserwählten eines neuen Himmels und einer neuen Erde zu gehören. Alle anderen Religionen sind satanisch und verdammt; nur der Gründer und seine Anhängerinnen und Anhänger gerettet und unsterblich. Aufgrund dieser Überzeugung ist die Bewegung stark missionarisch aktiv. Es wird versucht, Mitglieder aus bestehenden christlichen Gemeinden abzuwerben. „Zu den Vorwürfen gehört auch, dass die Organisation Tarnnamen verwendet, potenzielle Mitglieder – bevorzugt junge Menschen – auf der Straße unter einem Vorwand anspricht, diese schließlich zu einem kostenlosen Bibelkurs einlädt und man lange nicht erfährt, wer wirklich hinter der Organisation steckt“, erklärt Adler. Ausgestiegene Personen berichten zudem von sogenannten „shepherds“, welche neuen Mitgliedern zur Seite gestellt werden, um sie stets stark kontrollieren und beeinflussen zu können. Verdeckt versteht sich. Getarnt ist diese Person als normaler Kursteilnehmer und Lernpartner. In den Kursen wird man so stark mit Informationen überflutet, dass keine Zeit zum Nachdenken oder für kritische Rückfragen bleibt. Die investierte Zeit wird immer mehr, der Druck steigt, die Gedanken drehen sich nur noch um die Gruppe und Bibelinhalte. Die Folge: manche Mitglieder brechen ihre Ausbildungen ab, kündigen ihre Arbeit, verlassen ihre Familien und brechen ihre sozialen Beziehungen ab. Und das alles, um sich noch mehr für die Gruppe engagieren zu können – in dem Glauben, andere Menschen retten zu müssen.

 

Angst als Bindeglied. „Aussteigerinnen und Aussteiger berichten von Belästigungen und Stalking, mit denen sie konfrontiert wurden, um sie dazu zu bewegen, zu bleiben“, weiß Adler. „Es wird die Angst erzeugt, man falle dem Satan und Dämonen anheim und verliere den Schutz Gottes, wenn man austritt.“ Das Fatale: all diese Machenschaften erkennt man meist erst, wenn man schon sehr tief in der Gemeinschaft verankert ist.

„Eine Frau, nennen wir sie X, reflektierte nachträglich über das Erlebte folgendes bei uns“, erinnert sich Adler: „In der Schule hört man über Sekten und denkt, wie kann jemand freiwillig in so eine Gruppe gehen? Selbst würde mir das nie passieren. Erschreckend, sich selbst in so einer Situation zu erleben.“ Das zeigt, wie fließend der Eintritt funktioniert.

„Vor allem anfangs wird einem alles logisch verkauft“, erzählt auch Hans. „Man wird willkommen geheißen, es wird viel Liebe verbreitet, man wird gelobt, das Gemeinschaftsgefühl ist stark da und man wird unauffällig immer tiefer hineingezogen. Unbemerkt erfolgt halt dann die Gehirnwäsche.“

Ihre Mitglieder bewerben die „Sekten“ meist sehr offen: „Durch persönliches Ansprechen auf der Straße, durch Handzettel, Infostände, Werbeinserate, die beispielsweise auf Social Media auftauchen, Postwurfsendungen oder Empfehlungen von Freunden und Bekannten“, erklärt Adler.

Das klassische „Sektenopfer“ gibt es dabei nicht. „Die Ursache, warum Menschen ein Angebot im religiösen oder weltanschaulichen Kontext annehmen, wird als „Passungsmodell“ bezeichnet“, erklärt Adler. „Das bedeutet, dass in einer bestimmten Situation die momentanen Bedürfnisse des potenziellen Mitgliedes dem Angebot entsprechen. Das kann z.B. das Bedürfnis nach Zuwendung, Gemeinschaft, Heilung, Gesundheit oder die Verbesserung der privaten und beruflichen Situation sein. Wir alle können in unserem Leben eine Phase durchlaufen, wo wir für ein bestimmtes Angebot ansprechbar sind.“ Vor allem, wenn es eine Vertrauensperson ist, die einen hineinführt. Auf Manipulation und Gehirnwäsche kommt man meist erst nach und nach, wenn die Langzeiteffekte einsetzen und man merkt, dass man als Persönlichkeit abbaut und man in seiner Entwicklung zurück geht. Aus den meisten „Sekten“ kann man grundsätzlich jederzeit aussteigen, aber meist wird dann die Ächtung praktiziert. Wer also aussteigt, dem bricht das komplette Sozialsystem weg. Was aber nun tun, wenn man eine Person gefährdet sieht?

 

Hilfe für Betroffene. „Wenn jemand Anzeichen von Abhängigkeit von einem bestimmten Angebot zeigt, ist sensibles und bedachtes Vorgehen geboten“, weiß Adler. „Eine Konfrontation mit dem Wort „Sekte“ oder kritischen Informationen verursacht erfahrungsgemäß Ablehnung und letztendlich Rückzug. Am besten ist es, sich professionelle Beratung zu holen.“

Wichtig ist: „Nicht den Kontakt abbrechen. Kein Geld geben, da es sonst möglicherweise in das Angebot investiert wird. Versuchen zu verstehen, was das Angebot so faszinierend macht, jedoch klare Grenzen ziehen und sich nicht selbst ‘missionieren’ lassen.“

Globalisierung, der technische Fortschritt, Krisen, fehlende soziale Netze, der Zwang nach Perfektion und Selbstdarstellung oder auch die immer größer werdende weltanschauliche Vielfalt sind nur einige Faktoren, die zukünftig eine größere Rolle in Sachen Sekten spielen werden. Und auch die Corona-Pandemie hat mit zahlreichen Verschwörungstheorien ihr übriges getan. „Wir leben also in einer Zeit, die als eine Art Nährboden für Angebote aller Art fungiert, die einfache Antworten und Lösungen für komplexe Fragen und Probleme bietet“, so Claudia Adler. „Im Internet, das immer mehr an Bedeutung gewinnt, gibt es außerdem eine Fülle von Angeboten und nicht alle sind seriös. Außerdem sind viele dieser Angebote leicht verfügbar, man kann sich online Kurse buchen und sich seinen Guru per Zoom quasi jederzeit ins Wohnzimmer holen. Viele Gleichgesinnte können sich über soziale Netzwerke verbinden und sich gegenseitig bestärken, was möglicherweise eine kritische Außenperspektive erschwert. Die Anonymität des Internets ist außerdem ein zusätzlicher Risikofaktor, da man nicht weiß, wer tatsächlich hinter einem Angebot steckt, viele werben verdeckt. Es gilt in jedem Fall, wachsam zu sein.“








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