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Rosemarie Pexa

Nachbarschaft gegen häusliche Gewalt

Das Projekt „Stadtteile ohne Partnergewalt“ ermutigt Menschen, Zivilcourage zu zeigen.



Das Motto des Projekts „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ lautet „Was sagen! Was tun!“. Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, vor allem aber Nachbarn sollen ermutigt werden, bei Gewalt in der Privatsphäre Stellung zu beziehen und auch aktiv einzugreifen. Bei persönlichen Treffen, im Internet und in schriftlichen Informationsmaterialien gibt es konkrete Tipps, wie man Zivilcourage zeigen kann, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.

StoP wurde 2006 von Prof. Dr. Sabine Stövesand von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg initiiert. Grundlage für das Projekt der Soziologin waren Studien, die nachwiesen, dass Nachbarn, die sich bei Gewalt in der Partnerschaft einmischen, Gewalt reduzieren und sogar Tötungsdelikte verhindern können. Das StoP-Konzept ist urheberrechtlich geschützt. Plant eine Stadtteileinrichtung, es umzusetzen, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein. Benötigt werden vor allem eine Trägerorganisation, Mitarbeiter, die sich zu StoP-Koordinatoren ausbilden lassen, Räumlichkeiten und Finanzmittel. In Österreich obliegt die Gesamtkoordination dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF), deshalb sollten sich potenzielle neue Stand­orte mit dem Verein in Verbindung setzen.

In Österreich gibt es mittlerweile StoP-Projekte an insgesamt 30 Standorten, verteilt auf alle Bundesländer. „In Wien wird das Konzept von StoP in neun Bezirken – Landstraße, Wieden, Margareten, Mariahilf, Favoriten, Simmering, Meidling, Penzing und Hernals – umgesetzt“, so Theresa Loibl, bei StoP für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Finanziert werden die Projekte vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, vom Fonds Gesundes Österreich (FGÖ), von der Wiener Gesundheitsförderung (WiG) und von öffentlichen Einrichtungen des jeweiligen Bundeslandes.

 

StoP Margareten. Das erste StoP-Projekt in Österreich mit dem Verein AÖF als Trägerorganisation entstand 2019 in Margareten. Im geschichts­trächtigen Gemeindebau „Reumannhof“ stellte „wohnpartner“, eine Einrichtung der Stadt Wien zur Betreuung von Mietern in Gemeindebauten, Räum­lichkeiten für Treffen im Rahmen des Projekts zur Verfügung.

Auch Mitarbeiter waren bald gefunden. Sie absolvierten die Ausbildung zum StoP-Koordinator, die vier Module zu Gewaltpräventionsarbeit, Gemeinwesenarbeit, Community Organizing und Sozialraumanalyse umfasst. In Margareten unterstützt seit 2020 die Grätzlpolizei des 5. Bezirks als Projektpartner die Initiative.

Die eigentliche Arbeit begann damit, Bewohner des Stadtteils für Gewalt in der Privatsphäre zu sensibilisieren und Interesse für StoP zu wecken. Mitarbeiter gingen von Tür zu Tür, um von den Mietern zu erfahren, was sie über häusliche Gewalt dachten, ob sie Gewalt in der Nachbarschaft mitbekommen und ob sie etwas dagegen unternommen hatten. Die Reaktionen der kontaktierten Personen waren vorwiegend positiv.

 

Frauentische. In einem nächsten Schritt wurden Aktionsgruppen gegründet, die sich mit dem Thema Partnergewalt auseinandersetzten. Den Anfang machte eine Frauengruppe, die Gesprächsrunden nur für Frauen veranstaltete. Bei den von einer StoP-Koordinatorin moderierten „Frauentischen“ diskutieren die Teilnehmerinnen zu verschiedenen feministischen Themen.

Die Teilnehmerinnen werden außerdem für Warnsignale in einer Beziehung – sowohl in der eigenen als auch in der anderer – sensibilisiert und informiert. Gewaltbeziehungen entwickeln sich meist schleichend. Es ist wichtig, subtile Zeichen, sogenannte „Red Flags“, zu erkennen. Dazu gehört z. B. „Love Bombing“. Der Partner intensiviert die Beziehung innerhalb kürzester Zeit. Er überhäuft die Frau mit Komplimenten, Geschenken und übertriebenen Ausdrücken der Zuneigung. Die Frau fühlt sich geschmeichelt – aber tatsächlich ist es eine Methode, um Kontrolle zu erlangen“, nennt Loibl ein Beispiel.

Auch bei übermäßiger Eifersucht sollten die Alarmglocken läuten. Diese erkennt man etwa daran, dass der Partner Treffen der Frau mit Freuden oder Familienmitgliedern verhindern möchte. Es kommt auch vor, dass er versucht, die Kontrolle über verschiedene Lebensbereiche zu erlangen. Äußern kann sich das z. B. durch ständige Kritik am Kleidungs- oder Ernährungsstil. Manchmal dringt der Partner auch in die Privatsphäre der Frau ein und verlangt von ihr beispielsweise die Zugangsdaten für ihre Social-Media-    Accounts.

 

Männertische. Nach den Frauentischen wurden in Margareten auch Männertische ins Leben gerufen, bei denen sich die Teilnehmer – ähnlich wie bei den Frauentischen – unter der Leitung eines StoP-Koordinators in einem geschützten Rahmen austauschen. Die Erfahrung, dass es leichter ist, Frauen für die Beschäftigung mit dem Thema Gewalt in der Privatsphäre zu interessieren, hat sich beim StoP-Projekt im 5. Bezirk bestätigt. Jene Männer, die selbst Gewalt ausüben, wollen sich meist nicht damit auseinandersetzen und nicht gewalttätige Männer fühlen sich oft nicht angesprochen. Mit viel Bewusstseinsarbeit konnte StoP bereits einige mobilisieren.

Inzwischen ist der Männertisch im StoP-Pilotbezirk schon etabliert und findet regelmäßig mit demselben „Stammpublikum“ statt. Dabei entstehen immer wieder Ideen für gemeinsame Aktionen, etwa für einen „Männerlauf“, der am 22. März 2024 bereits zum fünften Mal stattgefunden hat. Bei der Kampagne „Männ[sch]lichkeit“ geht es darum, destruktive Männlichkeitsnormen und Rollenbilder aufzubrechen. Die Teilnehmer versuchen, mittels öffentlicher Aktionen und in Sozialen Medien, möglichst viele andere Männer zu erreichen. Dank der „feministischen Männerarbeit“ wurden auch in Simmering und Penzing Männertische initiiert.

In gemischten Nachbarschaftsgruppen finden sich Frauen und Männer zusammen. Zu den gemeinsamen Aktivitäten zählen auch Feste, kulturelle Veranstaltungen und Aktionen im öffentlichen Raum. Für die Zielgruppe Jugendliche führt StoP Workshops in Schulen und Jugendzentren durch. „Die Themen sind hauptsächlich Gewalt in der Familie, erste Erfahrungen mit Partnerschaften und Warnsignale in Beziehungen“, erklärt Loibl. Die hohe Anzahl an Frauenmorden, die sich innerhalb kurzer Zeit zu Jahresbeginn ereignet hatten, sorgten bei vielen StoP-Aktivisten für Gesprächsbedarf. Deshalb veranstaltete StoP Aktionen gegen Femizide.

 

Handlungsmöglichkeiten. Oberstes Ziel aller Aktivitäten von StoP ist es, Gewalt in der Privatsphäre zu verhindern. Wie jeder einzelne dazu beitragen kann, wird in den verschiedenen Gruppen anhand konkreter Handlungsmöglichkeiten erläutert. Vermutet man, dass eine Person im eigenen Umfeld von häuslicher Gewalt betroffen ist, sollte man sie ansprechen. Dabei ist auf einen sicheren Ort ohne Überwachung durch den (vermutlichen) Täter zu achten. Empfohlen wird, der Betroffenen Informationen über Unterstützungseinrichtungen zu geben und selbst unverbindlich Hilfe anzubieten, z. B. als Ansprechpartner oder als Begleitung beim Besuch einer Opferschutzeinrichtung. Dabei ist es wichtig, die Bedürfnisse und Grenzen der Betroffenen zu respektieren. Viele wissen nicht, wem sie vertrauen können, oder sind noch nicht bereit, Hilfe anzunehmen.

In einer akuten Gewaltsituation – etwa, wenn man aus einer Nachbarwohnung lautes Streiten und Schreie hört – kann eine sogenannte paradoxe Intervention zielführend sein. Loibl erklärt, was darunter zu verstehen ist: „Man läutet an der Tür und fragt etwas, das nichts mit dem Streit zu tun hat, z. B., ob ein Paket abgegeben worden ist. So signalisiert man dem Täter, dass man hinhört, und dem Opfer, dass es nicht allein ist.“ Darüber hinaus vermeidet man damit eher, die Aggression auf sich zu lenken, als wenn man die Gewalt direkt anspricht.

Im Vordergrund steht immer der Selbstschutz, betont Loibl. Hält man es für zu riskant, den Täter persönlich zu konfrontieren, oder möchte man unerkannt bleiben, kann man auch zur Haustür gehen und an der Gegensprechanlage bei den streitenden Nachbarn läuten. Hat man den Eindruck, dass der Streit eskaliert oder es sich um einen Notfall handelt, sollte man nicht zögern, die Polizei zu rufen. Für den Fall, dass man bei einer Gewalttat vor Gericht als Zeuge aussagen soll, ist es wichtig, sich das Gesehene bzw. Gehörte genau zu merken oder in einem Gedächtnisprotokoll aufzuschreiben.

 

Bewusstseinsänderung. Die Botschaft, die StoP und andere Akteure im Bereich Gewaltschutz vermitteln wollen, scheint anzukommen, so Loibl: „Partnergewalt ist keine Privatsache, sondern geht uns alle an. Es gibt immer mehr Menschen, die sich für andere verantwortlich fühlen.“ Entsteht ein neues StoP-Projekt, erzählen oft Bewohner des betreffenden Stadtteils, dass sie StoP schon aus anderen Bezirken kennen und es gut finden, auch in der eigenen Wohnumgebung eine Gruppe zu haben. Etliche wollen auch selbst aktiv werden.

In Zahlen fassen lässt sich die Bewusstseinsänderung bezüglich Gewalt in der Privatsphäre kaum, aber Daten der Frauenhelpline weisen auf eine positive Entwicklung hin: Seit sich StoP in Wien etabliert hat, melden sich mehr Anrufer, die nicht selbst von Gewalt betroffen sind, sondern Vorfälle in ihrem Umfeld beobachtet haben und wissen wollen, wie sie helfen können.

Ob sich durch StoP auch schwere Gewalttaten wie Femizide verhindern lassen, sei laut Loibl schwer zu sagen, doch habe StoP in den vergangenen fünf Jahren deutlich zu einer Sensibilisierung der Bevölkerung beigetragen. „Gewalt an Frauen ist ein Querschnittsthema, es braucht eine österreichweite Gesamtstrategie, die alle Gesellschaftsschichten mitnimmt. Männer müssen ihre patriarchalen Rollenbilder ablegen, die Zivilgesellschaft muss sich verantwortlich für die Sicherheit und Gesundheit von Frauen fühlen, die Regierung muss das Problem ernst nehmen und Gewaltprävention und -schutz längerfristig finanzieren“, so Loibl.                  

 

 

 

 

 

 

 

 

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