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  • Alfred Ellinger

Hungertod

In vielen Teilen unserer Welt sterben Menschen, viele Menschen an Hunger, sie verhungern! Hier in Europa ist ausreichend Nahrung für alle Menschen vorhanden, niemand muss verhungern.

In den Tageszeitungen vom 28. April 2023 wurde berichtet, dass 22 Millionen Menschen in Äthiopien, Kenia und Somalia keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmittel haben. Auch in Europa, selbst in Österreich verhungern Menschen, verweigern die Aufnahme von Nahrung, aber aus Furcht vor Gewichtszunahme oder dem Wunsch nach Gewichtsverlust. Mit gefährlichen Folgen, Essstörungen, „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“ – Anorexia nervosa (griechisch – lateinisch) oder Magersucht. Erstmals diagnostiziert und beschrieben wurde diese Krankheit 1689 von dem englischen Arzt Richard Morton.

Bis zu 15 % der Betroffenen sterben an den Auswirkungen der Krankheit durch Komplikationen, wie Herzstillstand oder Infektionen, häufig aber auch durch Suizid. Diese Erkrankung beginnt häufig in der Pubertät oder Adoleszenz und beeinträchtigt die psychische und körperliche Entwicklung. Genesene leiden oft ihr Leben lang an den Langzeitfolgen wie Niereninsuffizienz und Osteoporose. Zahlreiche, vor allem psychische Faktoren können diese Krankheit begünstigen. Heilung kann durch eine lange Zeit erforderliche Psychotherapie und entsprechende Medikation (Antidepressiva) erzielt werden.

In der „KroneBunt“ vom 5. März 2023 wird berichtet, dass etwa 200.000 Österreicher einmal im Leben an einer Essstörung leiden, Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

In meiner aktiven Laufbahn als Richter war ich mit zwei Fällen von Tod durch Anorexia nervosa befasst. Die Einwilligung der Patientinnen und die Verantwortlichkeit der Bezugspersonen und des behandelnden Arztes waren dabei von grundsätzlicher Bedeutung.


Fall 1: Die zum Zeitpunkt ihres Todes 26jährige S. K, litt bereits acht Jahre an Anorexia nervosa und war insgesamt dreimal in stationärer Behandlung an der psychiatrischen Universitätsklinik. Die erste Aufnahme erfolgte nach einem Suizidversuch mit Barbituraten, das Aufnahmegewicht betrug damals 32 kg. Zwei Jahre später erfolgte eine, durch den Polizeiamtsarzt veranlasste Zwangseinweisung, bei einem Körpergewicht von 28 kg. Die letzte stationäre Aufnahme erfolgte im Alter von 25 Jahren, nachdem sie von ihrer Mutter bewusstlos (aufgrund einer Hypoglykämie) in ihrem Zimmer aufgefunden wurde. Das Aufnahmegewicht betrug damals 38 kg.

Zum Zeitpunkt der Leichenöffnung wog die junge Frau 29 kg. Festgestellt wurde eine hochgradige Atrophie der inneren Organe, sowie eine Herzdilatation und ein Hirnödem.


Fall 2: Die 16 Jahre alte C. H. litt seit über drei Jahren an Anorexia nervosa und wurde deshalb von einem praktischen Arzt behandelt. Die Eltern, in deren gemeinsamen Haushalt das Mädchen lebte, wuss­ten über die Krankheit und über die Notwendigkeit der Behandlung Bescheid. Eine Spitalseinweisung wurde angeraten, von dem Mädchen aber abgelehnt. C. H. wurde von ihrer Großmutter tot im Bett aufgefunden. Die Untersuchung erfolgte im Rahmen der sanitätspolizeilichen Obduktion, rechtliche Schritte wurden von seiten der Behörde nicht veran­lasst. Die Leichenöffnung ergab eine hochgradige Atrophie der inneren Organe, die sich nicht nur in einer Größenreduktion, sondern auch in einer entsprechenden Reduktion der Organgewichte zeigte und das Vorliegen eines ausgeprägten Hirnödems. Es ergaben sich keine Hinweise auf eine Vergiftung bzw. toxische Einwirkung.

In beiden Fällen legte das Fehlen einer aktuellen Todesursache im Sinne einer komplizierenden Infektion (z.B. Pneumonie) den Schluss nahe, dass der Tod infolge eines Herzversagens (vermutlich tödliche Herzrhythmusstörungen infolge ventrikulärer Tachyarrhythmien) eingetreten ist.


Zu prüfen waren insbesondere folgende Rechtsfragen:

• Inwieweit ist die Verweigerung einer Spitalsbehandlung bzw. einer künstlichen Ernährung beachtlich?

• Inwieweit sind die Eltern oder nächste Verwandte bzw. ein behandelnder Arzt verantwortlich?

Zunächst war allgemein festzuhalten, dass jede Heilbehandlung nur auf der Grundlage der Entscheidung des Patienten erfolgen darf. Der mündige Patient hat das uneingeschränkte Recht auf freie Selbstbestimmung.

Wie oben dargestellt, handelt es sich bei der Anorexia nervosa um eine psychische Erkrankung, die in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl der Fälle mit einer Krankheitsuneinsichtigkeit und der damit verbundenen Ablehnung jeder medizinischen Behandlung einhergeht. Auch eine häufig vorhandene Suizidtendenz ist in der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert.

§ 8 Abs. 3 KAKuG (Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz) normiert, dass die Krankenanstalten sicherzustellen haben, dass die Einwilligung des Pfleglings in die medizinische Behandlung vorliegt und dass die Aufklärung im gebotenen Maß erfolgen kann.

Eine Heilbehandlung ohne Einwilligung oder gegen den erklärten Willen eines Patienten (das Einwilligen von Angehörigen oder des Ehepartners genügt grundsätzlich nicht) ist nach § 110 Abs. 1 StGB ( Eigenmächtige Heilbehandlung) auch dann strafbar, wenn das Unterbleiben der Behandlung schwerste gesundheitliche Nachteile für den Patienten, ja selbst seinen Tod zur Folge hätte.

§ 110 Abs. 1: Wer einen anderen ohne dessen Einwilligung, wenn auch nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft behandelt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.


Patientenverfügung. Allerdings kann man mit einer Patientenverfügung im voraus bestimmen, welche medizinische Behandlungen man im Falle einer unheilbaren oder schweren Erkrankung ablehnt. Das können zum Beispiel lebensverlängernde Maßnahmen sein. Die Patientenverfügung ist eine schriftliche Willenserklärung. Sie kann im Patientenverfügungsregister des österreichischen Notariats oder der österreichischen Rechtsanwälte regis­triert werden.

Grundsätzlich hätte die 16jährige C. H., da die erforderliche Heilbehandlung mit keiner ernstzunehmenden Gefahr für ihr Leben oder der Gefahr dauernder gesundheitlicher Schäden verbunden war, auch gegen den Willen ihrer Eltern einer Heilbehandlung rechtswirksam zustimmen können. C. H. hat jedoch eine Einweisung in ein Spital bzw. eine künstliche Ernährung abgelehnt. Da davon auszugehen ist, dass es ihr im Hinblick auf eine bestehende Krankheitsuneinsichtigkeit an der Dispositionsfähigkeit mangelte, hätte der gesetzliche Vertreter ( Eltern; bei ehelichen Kindern genügt die Zustimmung eines Elternteiles) die Einweisung in ein Spital veranlassen müssen. Diese Pflicht hätte selbstverständlich auch den behandelnden Arzt getroffen. Wenn eine entsprechende Information der Patientin und deren Eltern nicht zur Krankheitseinsicht bzw. Behandlungsbereitschaft geführt hätte, wäre der Arzt bei der im gegenständlichen Fall unzweifelhaft anzunehmenden Lebensgefahr verpflichtet gewesen, selbst gegen den Widerstand der Patientin und deren (untätiger) Eltern, die Spitalseinweisung bzw. die erforderliche medizinische Behandlung vorzunehmen oder zu veranlassen. Im dargestellten Fall ist eine auch gegen den Willen des Patienten bzw. dessen gesetzlichen Vertreter durchgeführte lebenserhaltende Heilbehandlung jedenfalls gemäß § 110 Abs 2 StGB gerechtfertigt.

§ 110 Abs. 2: Hat der Täter die Einwilligung des Behandelten in der Annahme nicht eingeholt, dass durch den Aufschub der Behandlung das Leben oder die Gesundheit des Behandelten ernstlich gefährdet wäre, so ist er nach Abs.1 nur zu bestrafen, wenn die vermeintliche Gefahr nicht bestanden hat und er sich dessen bei Aufwendung der nötigen Sorgfalt (§ 6) hätte bewusst sein können.

Ausgehend vom Krankheitsbild der Anorexia nervosa (verbunden mit Krankheitsuneinsichtigkeit und damit verbundener Dispositionsunfähigkeit), wird auch für den volljährigen Patienten das gleiche gelten wie oben ausgeführt. Alle Personen, die eine Garantenstellung innehaben (insbesondere der Arzt, der die Behandlung übernommen hat), haben – auch gegen den Willen des Patienten – für die erforderliche Heilbehandlung Sorge zu tragen.

Bei Vornahme einer, am geltenden Recht orientierten, lebensnahen Betrachtung des Sachverhalts, ergibt sich zunächst, dass im Falle der mündigen Minderjährigen C. H. das Verhalten sowohl der Eltern als auch des behandelnden Arztes als fahrlässig im Sinne des § 6 StGB zu beurteilen ist.

§ 6 Abs. 1: Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet ist und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist, und deshalb nicht erkennt, dass er einen Sachverhalt verwirklichen könne, der einem gesetzlichen Tatbild entspricht.

Abs. 2: Fahrlässig handelt auch, wer es für möglich hält , dass er einen solchen Sachverhalt verwirkliche, ihn aber nicht herbeiführen will.

Abs. 3: Grob fahrlässig handelt, wer ungewöhnlich und auffallend sorgfaltswidrig handelt, sodass der Eintritt eines dem gesetzlichen Tatbild entsprechenden Sachverhalts als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar war.

Das (fahrlässige) Unterlassen der erforderlichen Heilbehandlung war im Sinne der im Strafrecht herrschenden Äquivalenztheorie kausal für den Tod der 16jährigen Patientin. Die Fahrlässigkeit des behandelnden Arztes kann auch eine Einlassungsfahrlässigkeit sein, wenn der praktische Arzt, der noch nie mit einer Anorexia nervosa zu tun hatte, die Behandlung der Patientin übernimmt, ohne sich über diese Krankheit entsprechend zu informieren oder kollegiale Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Eltern der jungen Patientin hatten gegenüber ihrer minderjährigen Tochter schon aufgrund des Gesetzes (§ 137 Abs. 1 ABGB – Eltern und Kinder haben einander beizustehen und mit Achtung zu begegnen...) eine Garantenstellung inne, die sie zu besonderer Obsorge verpflichtet. Auch den behandelnden Arzt trifft eine Garantenpflicht, einerseits aufgrund des Behandlungsvertrages (Ärztegesetz) und andererseits gem. § 2 StGB.

§ 2 StGB: Bedroht das Gesetz die Herbeiführung eines Erfolges mit Strafe, so ist auch strafbar, wer es unterlässt, ihn abzuwenden, obwohl er zufolge einer ihn im besonderen treffenden Verpflichtung durch die Rechtsordnung dazu verhalten ist und die Unterlassung der Erfolgsabwendung einer Verwirklichung des gesetzlichen Tatbildes durch ein Tun gleich zuhalten ist.

Nach herrschender Meinung ist, außer bei „erfolgsgebundenen Tätigkeitsdelikten“ bei „verhaltensgebundenen Delikten“, bei denen der Deliktstypus eine näher bestimmte Art des Verhaltens oder der Weise der Verursachung voraussetzt die Gleichwertigkeitsfrage mit der Garantenstellung des Unterlassenden gewährleistet. Hingegen hat der Oberste Gerichtshof das Gleichwertigkeitserfordernis, auch in den Fällen der fahrlässigen Tötung, für prüfungsbedürftig empfunden. Bei der Begehung durch Unterlassung ist die Schuld typischerweise geringer als bei der durch positives Tun. Entscheidend ist daher, ob die Unterlassungstat der Strafwürdigkeit des leichtesten Falles einer Begehung durch positives Tun nach der in Betracht kommenden Strafdrohung noch genügt. Das Gleichwertigkeitserfordernis ist einerseits Maßstab für die Sozialwidrigkeit, betrifft aber andererseits auch den Sinngehalt des sozialen Unwerts.

Ausgehend vom vorliegenden Sachverhalt erscheint im Hinblick auf das zu fordernde Maß der Fürsorge der Eltern bzw. der Berufspflichten des Arztes (Behandlungsgebot) die geforderte Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen gegeben. Sowohl die Eltern, als auch der behandelnde Arzt, haben somit im Fall 2 bzgl. der minderjährigen C. H. das Vergehen der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung nach den §§ 2, 80 Abs. 1 StGB zu verantworten.

§ 80 Abs. 1 StGB: Wer fahrlässig den Tod eines anderen herbeiführt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen zu bestrafen.

Im Fall 1, betreffend die erwachsene Patientin S. K., lässt sich hingegen aus der ermittelten Vorgeschichte ein strafrechtlich relevantes Verhalten nicht ableiten.
















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