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  • Rosemarie Pexa

Die Reform des Maßnahmenvollzugs

Das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz bringt mehr als nur geänderte Begriffe.


Bestimmte Insassen von forensisch-therapeutischen Zentren, bisher bekannt als Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher, sollen ab 1. September 2023 entlassen werden. Wie viele werden es sein? Erhalten sie weiter eine Behandlung? Stellen sie eine Gefahr für die Bevölkerung dar? Die Gesetzesänderung wirft viele Fragen auf. Je eine Vertreterin des Justizministeriums und der Gewerkschaft geben Antworten.


Kriminalpolizei: Welche Bedeutung hat das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz aus menschenrechtlicher Sicht?

Sina Bründler, Ressortmediensprecherin des Bundesministeriums für Justiz.

Sina Bründler (Ressortmediensprecherin des Bundesministeriums für Justiz): Mit der Reform des Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetzes (MVAG) soll die Unterbringung im Maßnahmenvollzug künftig menschenrechtskonformer ausgestaltet werden und gleichzeitig die Sicherheit der Bevölkerung ungebrochen gewährleistet bleiben. Dabei werden erstmals eigene Regelungen für Jugendliche geschaffen. Die Einweisungskriterien für Jugendliche und junge Erwachsene werden strenger gefasst als bei Erwachsenen. Eine Unterbringung wegen einer Jugendstraftat soll nur möglich sein, wenn diese mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zehn Jahren bedroht ist (§ 5 Z 6b JGG).

Sandra Gaupmann (in ihrer Funktion als stellvertretende Vorsitzende der Unabhängigen GewerkschafterInnen im Öffentlichen Dienst und in ausgegliederten Betrieben (UGÖD). Gaupmann ist außerdem Leiterin des Psychologischen Dienstes in der Justizanstalt Stein): Die UGÖD begrüßt eine Änderung des bisher gültigen veralteten Maßnahmenvollzugsgesetzes, da dieses seit 50 Jahren unverändert geblieben ist. Ein großer Dank dafür gebührt der Frau Bundesministerin für Justiz Dr. Alma Zadic. Schon allein der Begriff des „geistig abnormen Rechtsbrechers“ war nicht mehr zeitgemäß, er wurde durch den fachlich korrekten Begriff „psychisch kranker Rechtsbrecher“ ersetzt.

Aus menschenrechtlicher Sicht ist dieses Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz außerordentlich wichtig, da Untergebrachte im Maßnahmenvollzug z. B. nach § 21/1 StGB aufgrund ihrer psychischen Krankheit zum Tatzeitpunkt nicht zurechnungsfähig waren, die Tat aufgrund dieser Krankheit begangen haben und somit nicht im herkömmlichen Sinn „bestraft“ werden können. Eine Unterbringung in einer „normalen“ Justizanstalt ist somit nicht zulässig. Stattdessen ist eine Unterbringung in einem forensischen Zentrum angebracht, in dem die psychische Gesundung, der Gefährlichkeitsabbau sowie der Schutz der Bevölkerung und nicht der „Bestrafungsaspekt“ im Vordergrund steht.


Kann man schon abschätzen, wie viele derzeitige Insassen im Maßnahmenvollzug mit 1. September 2023 entlassen werden?

Bründler: Durch die Reform sollen mit Stichtag 1. September bestimmte Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Unterbringung Jugendliche oder junge Erwachsene waren, aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werden. Das betrifft voraussichtlich – vorbehaltlich bis dahin ergehender Entscheidungen der Gerichte betreffend (bedingter) Entlassungen – bundesweit neun Personen.

Gaupmann: In den Medien wurde kolportiert, dass es sich um neun Personen handeln soll, definitiv bestätigen kann ich dies nicht.


Unter welchen Bedingungen wird eine Person entlassen und wer beurteilt, ob eine Entlassung möglich ist?

Bründler: Bei der Beurteilung geht es um den Zeitpunkt der Anlasstat und nicht um den Zeitpunkt der Unterbringung, wobei diese in der Praxis häufig nahe beieinander liegen. Dazu § 1 Abs 1 Z 3 JGG „Jugendstraftat“: eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung, die von einem Jugendlichen begangen wird.

Im Zuge der Reform ist zusätzlich mit der Entlassung von etwa 50 Personen zu rechnen, die als Jugendliche bzw. junge Erwachsene eine Anlasstat begangen haben und in der Folge im Maßnahmenvollzug untergebracht wurden. In diesen Fällen waren die Anlasstaten keine sogenannten Kapitalverbrechen, z. B. Mord oder Raub, sondern in der Regel Straftaten wie qualifizierte gefährliche Drohung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Ob die (bisherigen) Voraussetzungen für eine Unterbringung durch die neue Rechtslage weggefallen sind und die Betroffenen daher zu entlassen sind, hat das Gericht zu prüfen. Die Entlassungen erfolgen, abhängig vom jeweils individuellen gerichtlichen Überprüfungstermin, ab Herbst innerhalb von einem Jahr. Selbstverständlich erfolgt bei allen Betroffenen eine entsprechende Vorbereitung der Entlassung.


Sandra Gaupmann, stellvertretende Vorsitzende der UGÖD.

Gaupmann: Nach meinem Wissensstand sollen alle Personen, die vor dem 21. Lebensjahr die Tat gesetzt, nach § 21/1 und 21/2 StGB verurteilt wurden und bereits mehr als 15 Jahre im Maßnahmenvollzug untergebracht waren, ohne Weisung zur weiteren Behandlung entlassen werden. Genau auf diesen Punkt bezieht sich meine Kritik. Das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz und die Entlassung selbst befürworte ich, allerdings ist eine adäquate Nachversorgung unumgänglich, um die österreichische Bevölkerung vor weiteren Delikten zu schützen und auch die Untergebrachten in ihrer weiteren Gesundung zu unterstützen.

Niemand, der im Strafvollzug in direktem persönlichem Kontakt mit psychisch kranken Rechtsbrechern arbeitet, würde zustimmen, dass dieses Klientel unversorgt und unbedingt entlassen werden soll. Leider ist die Nichteinbeziehung von Praktikern Usus in der Generaldirektion, obwohl sogar Interessenvertretungen und Arbeitsgemeinschaften für Sozialarbeit, Psychologie und Pflege im Strafvollzug implementiert sind und deren Sprecher wertvolle vollzugliche Inputs liefern könnten. Diesbezüglich dürfte die Abteilung Betreuung, in der sogar kürzlich eine personell äußerst großzügig ausgestattete Stabsstelle für den Maßnahmenvollzug geschaffen wurde, versagt haben, da Praktiker nicht einbezogen wurden.


Mit welchen Maßnahmen soll garantiert werden, dass die Entlassenen nicht rückfällig werden und sich in die Gesellschaft eingliedern?

Bründler: Um eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung der Betroffenen auch nach ihrer Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug zu gewährleis­ten, ist das Ministerium in laufendem Kontakt mit den entsprechenden Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, Bundesländern, Anwälten sowie den Familien der Betroffenen. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere vorbereitende Maßnahmen getroffen, etwa individuelle Sozialtrainings, Bewährungshilfe, begleitete Ausgänge und Sozialnetzkonferenzen mit allen beteiligten Einrichtungen. Zudem wird in allen Fällen auf eine bedingte Entlassung hingearbeitet. Darüber hinaus stellt das Minis­terium finanzielle Mittel für Betroffene, die nach ihrer Entlassung eine weitere Betreuung benötigen, etwa in einer therapeutischen Wohngemeinschaft, zur Verfügung.

Gaupmann: Zwingend notwendig erscheint mir, für adäquate Nachbetreuungseinrichtungen zu sorgen, damit die Entlassenen eine Wohnmöglichkeit haben, einer (Arbeits-)Tätigkeit nachgehen können und ihrem psychischen Krankheitsbild entsprechend behandelt werden. Die Nachbetreuung wurde, trotz Kenntnis der seit Jahren geringen Anzahl an Plätzen, von Seiten der Abteilung Betreuung im BMJ weder forciert noch ausgebaut – ein aus meiner Sicht schwerer Fehler im Hinblick auf den Resozialisierungsaspekt zum Schutz der Bevölkerung und der Untergebrachten.


Was ist, wenn Personen, die entlassen werden sollen, nach wie vor als gefährlich gelten – kommen sie dann in eine psychiatrische Einrichtung?

Bründler: Sollte von den Betroffenen nach ihrer Entlassung eine Selbst- oder Fremdgefährdung ausgehen, ist eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik nach dem Unterbringungsgesetz möglich.

Gaupmann: Die Vorbereitungen der Justizanstalten für die Entlassungen am 1. September 2023 und danach laufen zwar auf Hochtouren, aber die derzeitige Gesetzeslage sieht vor, dass eine psychiatrische Versorgung der Betroffenen nach ihrer Entlassung auf Freiwilligkeit basiert.


Was geschieht ab 1. September mit jenen Personen, die nach der aktuellen Regelung in den Maßnahmenvollzug kommen würden, nach der neuen aber nicht?

Bründler: Zurechnungsfähige Personen, die nach den neuen Bestimmungen nicht mehr eingewiesen werden, werden wegen der weiterhin verhängten Freiheitsstrafe in einer Justizanstalt zur Verbüßung angehalten, zurechnungsunfähige Personen werden exkulpiert. Eine Weiterbetreuung und -behandlung erfolgt je nach individuellem Bedarf in Gesundheits- oder Sozialeinrichtungen der Länder.

Gaupmann: Psychisch kranke Menschen sind – nach Verbüßung ihrer Tat oder aufgrund ihrer Unzurechnungsfähigkeit – generell nicht im Strafvollzug unterzubringen, sondern in psychiatrischen Einrichtungen. Es bräuchte ein Abkommen mit dem Gesundheitsministerium, um genügend Plätze und Ressourcen gewährleisten zu können, was derzeit offenbar nicht gegeben ist.


Werden die Entlassungen voraussichtlich Einsparungen bringen oder ist mit vergleichbaren bzw. sogar höheren Kosten für andere Maßnahmen, z. B. für die Betreuung in der Psychiatrie, zu rechnen?

Bründler: In der wirkungsorientierten Folgenabschätzung zum Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 wird ausgeführt, dass die strengeren Kriterien für die Beurteilung der Gefährlichkeit bei Anlasstaten bloß dämpfende Auswirkungen auf die laufende Kostensteigerung des Maßnahmenvollzugs haben.

Gaupmann: Da Psychiatrien in der Zuständigkeit der Länder liegen, das Justizministerium allerdings zum Bund gehört, werden die Entlassungen zwar dem Bund Einsparungen bringen, den Ländern jedoch erhöhte Kosten. Ein Möglichkeit wäre die Implementierung von „Bundespsychiatrien“.









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